Der Preis der Vorreiterrolle
Deutschland wollte Vorbild sein. Heute stehen wir mit den höchsten Strompreisen Europas, wachsenden Industrieproblemen und einer bröckelnden gesellschaftlichen Akzeptanz da. Was als ehrgeiziges Klimaprojekt begann, ist in vielen Bereichen zur Kostenfalle geworden – ohne dass die Wirkung überzeugt.
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen und politischer Einzelgänger, bringt es in einem viel diskutierten Essay auf den Punkt: Die deutsche Energiewende sei teuer, ineffizient – und in ihrer aktuellen Form kaum geeignet, den Klimaschutz langfristig zu sichern.
Vom Lenkungspreis zur Deindustrialisierung
Vor 25 Jahren wollten die Grünen mit hohen Energiepreisen zu mehr Effizienz erziehen. Heute sind selbst sie zurückgerudert. Robert Habeck will die Strompreise senken, SPD und Union wollen Netzentgelte und Stromsteuer drücken. Ausgerechnet die linke Ökonomin Ulrike Herrmann beklagt inzwischen die Milliardenkosten der Energiewende.
Was damals als ökologisch geboten galt, wirkt heute wie ein gefährlicher Standortnachteil. Und es ist nicht nur ein Gefühl: Kurzarbeit, Investitionszurückhaltung und erste Abwanderungstendenzen in der Industrie zeigen, dass hohe Energiekosten längst reale Folgen haben.
Drei Länder, drei Modelle – und Deutschland schaut zu
Während Deutschland sich im Streit um Trassenverläufe und Solarpflicht verzettelt, ziehen andere Länder pragmatisch vorbei. Frankreich setzt weiter auf abgeschriebene Atomkraftwerke und hat deutlich günstigere Strompreise – bei geringeren Emissionen. Norwegen kombiniert Wasserkraft mit fossilem Export. Die Schweiz fährt mit ihrer Kombination aus Wasserkraft und Kernenergie solide – und wirtschaftlich besser als wir.

Palmer fragt zurecht: Warum hält Deutschland stur an einem Weg fest, der weder günstig noch besonders effektiv ist?
Der Netzausbau als Nadelöhr
Ohne Netz kein Fortschritt. Dass dieser Satz in Deutschland zur Binsenweisheit verkommt, liegt auch am politischen Kleinklein. Jahrzehntelang verschleppt, kostet der überfällige Bau der Stromautobahnen heute Milliarden – nicht nur wegen Material und Planung, sondern vor allem wegen Rücksichtnahme auf Bürgerproteste.
Bayern hat sich etwa durchgesetzt: Statt Strommasten gibt’s Erdkabel – für das Zigfache der Kosten. Palmer spricht von einem politisch motivierten „Vergraben von Milliarden“.
Verbrannte Milliarden, verlorenes Vertrauen
Was die Klimapolitik zusätzlich untergräbt, ist ihre Unplanbarkeit. Erst wurde die Solarbranche mit Subventionen hochgefahren, dann durch Kürzungen und asiatische Konkurrenz fast vollständig ruiniert. Die Windkraftindustrie taumelte zuletzt durch Einbrüche bei den Ausschreibungen. Selbst erfolgreiche Unternehmen können kaum langfristig kalkulieren.
Gleichzeitig werden intakte Kohlekraftwerke abgerissen, die in Dunkelflauten dringend gebraucht würden – obwohl es längst Technologien wie CCS gibt, die CO₂ auffangen könnten.
Das Problem mit dem Verbrennerverbot
Besonders deutlich zeigt sich die Planlosigkeit in der Verkehrspolitik. Ein starres Verbot des Verbrennungsmotors trifft vor allem die Industrie in Süddeutschland – das Herzstück des wirtschaftlichen Erfolgs. Für Palmer ist das keine weitsichtige Regulierung, sondern ein riskanter Schnitt ins Rückgrat der deutschen Wirtschaft.
Ein schrittweiser Umstieg, etwa über Quoten oder steuerliche Anreize für E-Mobilität, wäre aus seiner Sicht klüger – und sozial verträglicher.

Moral ersetzt keine Strategie
Palmer kritisiert die „Moralisierung“ der Klimadebatte. Wer sich nicht an CO₂-Zielen pro Kopf orientiert, gilt schnell als Klimasünder. Dabei sei das Verhältnis von Emissionen zur Wirtschaftsleistung – also CO₂ pro Euro – ein realistischeres Maß.
Klimapolitik dürfe kein Elitenprojekt bleiben, sondern müsse als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Ohne ökonomische Vernunft, so Palmer, kippt nicht nur die Stimmung – sondern am Ende auch die Klimapolitik selbst.
Zurück zur Vernunft
Atomkraft sei aus heutiger Sicht zu teuer und zu langsam. Doch Kohlekraftwerke mit CO₂-Abscheidung oder flexible Erdgaskraftwerke mit Wasserstoffoption könnten – in Kombination mit Erneuerbaren und Speichern – pragmatische Brückenlösungen sein. Es gehe nicht um Dogmen, sondern um Machbarkeit und Wirkung.
Die Stromautobahnen müssten jetzt gebaut werden, auf Masten – nicht irgendwann, nicht als Prestigeprojekt, sondern als Grundlage für alles Weitere.
Wirtschaft und Umwelt – kein Widerspruch
Palmer zitiert am Ende zwei alte Sätze, die sich lange widersprachen: „Die Wirtschaft ist nicht alles. Aber ohne die Wirtschaft ist alles nichts.“ Und: „Die Umwelt ist nicht alles, aber ohne Umwelt ist alles nichts.“ Beides stimmt.
Doch wer so weitermacht wie bisher, riskiert beides zu verlieren. Den Wohlstand – und die Akzeptanz für den Klimaschutz.
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