Der Entwurf ist kein Appell, sondern ein Vertragswerk. Mit seinem nun veröffentlichten 20-Punkte-Plan für ein Ende des russischen Angriffskriegs legt Wolodymyr Selenskyj ein Dokument vor, das weniger auf Versöhnung als auf Absicherung zielt. Frieden soll nicht durch Vertrauen entstehen, sondern durch Abschreckung, internationale Garantien und eine dauerhaft starke ukrainische Armee. Moskau wartet bislang mit einer Antwort.
Der Plan entstand nach Gesprächen mit den USA und trägt deutlich deren Handschrift. Er ist juristisch formuliert, geopolitisch ambitioniert – und politisch heikel.

Die Ukraine bleibt souverän und militärisch stark
Gleich zu Beginn stellt der Plan klar, was nicht verhandelbar ist: Die Ukraine bleibt ein souveräner Staat. Daraus leitet sich der Kern des Konzepts ab. Das Dokument definiert ein vollständiges, bedingungsloses Nichtangriffsabkommen zwischen Russland und der Ukraine, überwacht durch einen internationalen Mechanismus mit satellitengestützter Aufklärung entlang der Kontaktlinie.
Zentral ist die vorgesehene Armeestärke. Die ukrainischen Streitkräfte sollen auch in Friedenszeiten 800.000 Soldaten umfassen. Damit würde die Ukraine dauerhaft zu den größten Militärmächten Europas zählen – ein klares Signal an Russland, dass ein erneuter Angriff nicht folgenlos bleiben würde.
Sicherheitsgarantien nach Nato-Vorbild
Der politisch brisanteste Teil betrifft die Sicherheitsgarantien. Die USA, die Nato und europäische Unterzeichnerstaaten sollen der Ukraine Garantien gewähren, die faktisch dem Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrags entsprechen. Ein russischer Angriff würde automatisch eine koordinierte militärische Reaktion und die sofortige Reaktivierung aller globalen Sanktionen auslösen.
Gleichzeitig zieht der Plan klare rote Linien für Kiew selbst. Greift die Ukraine ohne Provokation russisches Territorium an, entfallen diese Garantien. Der Mechanismus ist asymmetrisch, aber bewusst so konstruiert, um Eskalationen zu begrenzen und Verantwortlichkeiten eindeutig zuzuweisen.
Russland soll Nichtangriff rechtlich verankern
Russland müsste sich verpflichten, eine Politik der Nichtaggression gegenüber Europa und der Ukraine in nationales Recht zu überführen und international zu ratifizieren. Das ist mehr als eine diplomatische Zusage – es wäre eine rechtliche Selbstbindung Moskaus, deren Bruch unmittelbare Konsequenzen hätte.
Für den Kreml dürfte genau dieser Punkt schwer akzeptabel sein. Er würde Russlands strategischen Handlungsspielraum dauerhaft einschränken.
Ein verbindlicher EU-Pfad für die Ukraine
Der Plan koppelt Frieden explizit an Integration. Die Ukraine soll innerhalb eines festgelegten Zeitraums Mitglied der Europäische Union werden und kurzfristig privilegierten Zugang zum europäischen Binnenmarkt erhalten. Damit würde der geopolitische Status der Ukraine unumkehrbar Richtung Westen verschoben.
Für Brüssel bedeutet das: Frieden und Erweiterung werden miteinander verknüpft. Für Moskau: Ein zentrales Kriegsziel – die Verhinderung einer westlichen Integration – wäre gescheitert.
Wiederaufbau als geopolitisches Projekt
Ein eigener Block widmet sich dem Wiederaufbau. Vorgesehen sind mehrere Fonds, darunter ein Kapital- und Zuschussfonds in Höhe von 200 Milliarden Dollar, getragen von den USA und europäischen Staaten. Ergänzt wird das durch einen Ukraine-Entwicklungsfonds, Investitionen in Technologie, Rechenzentren und künstliche Intelligenz sowie den Wiederaufbau von Energie- und Gasinfrastruktur gemeinsam mit US-Unternehmen.
Die Weltbank soll spezielle Finanzierungspakete bereitstellen. Eine hochrangige internationale Arbeitsgruppe – geführt von einer globalen Finanzpersönlichkeit – soll den Wiederaufbau koordinieren. Die Ukraine behält sich zudem ausdrücklich Entschädigungsansprüche für Kriegsschäden vor.

Atomkraft, Handel und Nichtverbreitung
Bemerkenswert ist der Vorschlag zur gemeinsamen Verwaltung des Atomkraftwerks Saporischschja durch die Ukraine, die USA und Russland. Der Plan versucht damit, ein dauerhaftes Sicherheitsrisiko zu entschärfen, ohne die Eigentumsfrage einseitig zu klären.
Gleichzeitig bekräftigt die Ukraine ihren Status als atomwaffenfreier Staat und will nach Inkrafttreten des Abkommens ein Freihandelsabkommen mit den USA beschleunigen.
Die Kontaktlinie wird faktisch eingefroren
Territorial setzt der Plan auf Pragmatismus statt Klarheit. Die aktuellen militärischen Stellungen in Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson sollen als De-facto-Kontaktlinie anerkannt werden. Internationale Kräfte überwachen die Linie, eine Arbeitsgruppe soll Truppenverlegungen und mögliche Sonderwirtschaftszonen prüfen.
Eine formelle Anerkennung russischer Annexionen enthält der Plan nicht. Gleichzeitig wird festgeschrieben, dass künftige territoriale Regelungen nicht gewaltsam verändert werden dürfen. Russland müsste sich zudem aus mehreren angrenzenden Regionen vollständig zurückziehen, damit das Abkommen in Kraft tritt.
Humanitäre Fragen und politische Bedingungen
Alle Kriegsgefangenen sollen nach dem Prinzip „alle gegen alle“ ausgetauscht werden, ebenso zivile Geiseln und verschleppte Kinder. Ein humanitärer Ausschuss soll sich um Opfer und offene Schicksale kümmern.
Politisch verpflichtet sich die Ukraine, so bald wie möglich nach Unterzeichnung des Abkommens Wahlen abzuhalten – ein Signal an internationale Partner, dass demokratische Prozesse auch nach dem Krieg gewährleistet bleiben.
Ein Friedensrat unter US-Führung
Die Durchsetzung des Abkommens soll ein Friedensrat überwachen, dem die Ukraine, Europa, die Nato, Russland und die USA angehören. Geleitet werden soll dieses Gremium vom US-Präsidenten Donald Trump. Bei Verstößen sind automatisch Sanktionen vorgesehen.
Sobald alle Parteien zustimmen, soll ein sofortiger und vollständiger Waffenstillstand in Kraft treten.
Frieden nur unter klaren Bedingungen
Selenskyjs Plan ist kein Kompromisspapier. Er ist ein Angebot unter Bedingungen, die Russlands strategische Ziele fundamental infrage stellen. Genau darin liegt seine Logik – und sein Risiko. Der Entwurf macht deutlich, wie Kiew sich einen stabilen Frieden vorstellt: bewaffnet, eingebettet in den Westen und abgesichert durch internationale Macht.
Ob Moskau darauf eingeht, bleibt offen. Klar ist nur: Dieser Plan verschiebt den Rahmen der Debatte – weg von vagen Sicherheitsversprechen, hin zu einer neuen europäischen Ordnung mit klaren Garantien und ebenso klaren Zumutungen.



