Der Umbruch kam in einer Nacht – der Wiederaufbau dauert Jahre
Am Morgen des 9. Dezember 2024 war Syriens Landkarte eine andere: Baschar al-Assad, fast ein Vierteljahrhundert an der Macht, war gestürzt. Rebellenkommandant Ahmed al-Scharaa rief eine Übergangsregierung aus, versprach ein „Syrien für alle“ – und stand fortan vor einer kaum zu bewältigenden Aufgabe.
Sechs Monate später ist klar: Der politische Umbruch war der leichte Teil. Jetzt beginnt der eigentliche Härtetest – ein gespaltenes Land zusammenzuführen, das über Jahre nicht nur durch Bomben, sondern auch durch Misstrauen, Rache und Angst zerrissen wurde.
Hoffnung mit bitterem Beigeschmack
Ahmed al-Scharaa, der ehemalige Kopf der islamistischen Miliz Haiat Tahrir al-Scham, inszenierte sich früh als Staatsmann. Er traf Macron, wurde von Donald Trump empfangen, spricht im September vor der UN-Generalversammlung. Bilder, die auf außenpolitischer Bühne wirken – doch im Inneren des Landes wächst die Skepsis.
Insbesondere Minderheiten – Alawiten, Drusen, Christen – trauen dem Friedensversprechen der neuen Führung nicht. Zu tief sitzt die Angst vor einem neuen politischen Monopol der sunnitischen Mehrheit, zu frisch sind die Erinnerungen an gezielte Übergriffe durch regierungsnahe Einheiten.
Gewalt gegen Minderheiten – „ein altes Muster in neuen Farben“
Der Bruch mit der Vergangenheit bleibt oberflächlich, wenn alte Feindbilder weiterleben. Im Mai wurden im Süden des Landes Dutzende Drusen bei einem Angriff durch al-Scharaas Verbündete getötet.

Schon im März kam es in Küstenregionen zu Übergriffen auf alawitische Siedlungen – mit hunderten Toten. Die Übergangsregierung sprach von Militäreinsätzen gegen bewaffneten Widerstand. Doch Menschenrechtler sprechen von Vergeltung.
„Wer Frieden will, muss ihn auch leben – nicht nur versprechen“, sagt Scheich Hammud al-Hinawi, eine der führenden Stimmen der Drusen. „Der Hass sitzt tief – aber ohne Gerechtigkeit wird es keine Versöhnung geben.“
Die Kurden verhandeln – aber unter Druck
Im Nordosten des Landes gibt es vorsichtige Fortschritte: Die kurdische Selbstverwaltung, lange eine Macht für sich, hat sich grundsätzlich mit der Übergangsregierung auf eine Eingliederung in die staatlichen Strukturen geeinigt. Ein politischer Erfolg, aber einer mit vielen Fußnoten.
Wie genau Verwaltung, Polizei oder Militär zusammengelegt werden sollen, ist unklar. Die Kurden bleiben misstrauisch. Hinter vorgehaltener Hand heißt es: Man wolle verhindern, dass die neue Ordnung eine „sunnitische Einheitsfront“ werde – mit alten Ausschlüssen unter neuen Vorzeichen.
Ende der Sanktionen – Anfang der Erleichterung?
Der wohl größte kurzfristige Erfolg der neuen Regierung: die Aufhebung internationaler Sanktionen. Mitte Mai kündigte US-Präsident Trump das Ende aller Strafmaßnahmen gegen Syrien an – die EU folgte kurz darauf.
Der wirtschaftliche Effekt war unmittelbar: Erste Hilfslieferungen kamen an, Geld floss wieder ins Land, Importbeschränkungen fielen weg.
Doch der Aufschwung bleibt fragil. Nach wie vor leben rund 90 Prozent der Bevölkerung in Armut, Strom und Wasser sind vielerorts Mangelware, medizinische Versorgung nur in Ballungszentren halbwegs stabil. Der Wiederaufbau braucht Milliarden – und Vertrauen. Beides fehlt bislang.
Rückkehr mit Fragezeichen
Rund 400.000 Syrerinnen und Syrer sind laut UN in den letzten Monaten zurückgekehrt – aus dem Libanon, Jordanien und dem Irak. Auch in Deutschland registrierte das BAMF Hunderte freiwillige Rückkehrer. Ein Hoffnungsschimmer? Vielleicht.
Aber viele Rückkehrer berichten von ernüchternden Zuständen: zerstörte Häuser, keine Jobs, fehlende Schulbildung für Kinder. Die soziale Infrastruktur ist in großen Teilen des Landes schlicht kollabiert. Ohne funktionierende Verwaltungen bleibt jede Rückkehr ein Wagnis.
Zwischen Realität und Revolutionsromantik
Die Bilanz nach sechs Monaten ist ernüchternd. Der Sturz Assads war ein Einschnitt – aber keine Zäsur. Syriens Probleme sind nicht verschwunden, sie haben sich nur verlagert. Der alte Machtapparat wurde zerschlagen, aber nicht ersetzt.
Al-Scharaas Regierung steht nun vor dem gleichen Dilemma wie einst Assad: zwischen Machterhalt und Modernisierung. Wenn es ihr nicht gelingt, Minderheiten zu schützen, Rechtsstaatlichkeit herzustellen und eine funktionierende Verwaltung aufzubauen, wird auch dieses Kapitel der syrischen Geschichte im Chaos enden.
Bis dahin bleibt das neue Syrien ein Versprechen – aber noch lange kein Staat.
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