Der Markt folgt keiner einfachen Logik
Die Regale sind voll, die Auswahl ist groß – und doch wirkt der Blick auf die Preisschilder wie ein Schlag in die Magengrube. Rund drei Wochen vor dem ersten Advent kostet Schokolade so viel wie nie. Die Hersteller verlangen im Schnitt mehr als ein Fünftel zusätzlich, obwohl zentrale Rohstoffe längst wieder günstiger zu haben sind. Dieser Widerspruch bringt die Verbraucherschützer in Stellung: Sie sehen die Preisdynamik nicht mehr durch Marktzwänge erklärt, sondern durch unternehmerische Entscheidungen, die kaum jemand offen ausspricht.

Die Preisspirale dreht sich schneller als der Gesamtmarkt
Im Oktober lagen die Preise für Schokoladenwaren 21,8 Prozent über dem Vorjahresniveau, für eine klassische Tafel sogar 30,7 Prozent. Riegel und ähnliche Produkte verteuerten sich um 16 Prozent, Pralinen um 22,1 Prozent. Damit übersteigt die Teuerungsrate selbst ein Jahr nach dem großen Inflationsschub deutlich das Plus der allgemeinen Verbraucherpreise, die im selben Zeitraum lediglich um 2,3 Prozent stiegen.
Über mehrere Jahre betrachtet zeigt sich ein stabiler Trend: Von 2020 bis 2024 kletterten die Preise für Schokolade um 39,9 Prozent, für Riegel um 45,9 Prozent. Selbst Kekse, ein eher rohstoffarmes Produkt, verteuerten sich in vier Jahren um 74,4 Prozent. Die Branche hat sich offensichtlich an ein höheres Preisniveau gewöhnt – und der Handel ebenso.

Die Rohstoffmärkte entlasten eigentlich
Das Statistische Bundesamt verweist zwar auf stark gestiegene Zucker- und Kakaopreise in der jüngeren Vergangenheit. Tatsächlich hatten sich die Importkosten für Kakao im Frühjahr 2024 mehr als verdreifacht, ein historischer Ausschlag, verstärkt durch schlechte Ernten in Westafrika. Doch die Situation hat sich gedreht. An der Londoner Börse fiel der Preis zuletzt auf 3650 Pfund je Tonne – der niedrigste Stand seit Januar 2024.
Auch bei Zucker hat sich der Markt beruhigt. Der Rohstoff ist noch teurer als vor vier Jahren, aber der drastische Anstieg von 2022 und 2023 wurde teilweise zurückgenommen. Eine Entlastung entlang der Lieferketten wäre also möglich. Genau hier setzt die Kritik der Verbraucherschützer an: Die starke Preiserhöhung im Supermarkt spiegele die Entspannung an den Weltmärkten nicht wider.

Ein EU-Gesetz verschiebt das Kräfteverhältnis
Dass Kakaopreise so deutlich zurückkamen, hat nicht nur mit der Ernteentwicklung zu tun. Händler verweisen auf eine politische Komponente: Die EU verschob die Einführung eines Gesetzes, das die Einfuhr von Rohstoffen aus entwaldeten Gebieten verbieten soll. Solange die Zertifizierungspflichten nicht greifen, kann mehr Ware auf den europäischen Markt gelangen – inklusive solcher Produkte, die später nicht mehr zulässig wären. Das zusätzliche Angebot drückt die Preise.
Für die Hersteller ist diese Entwicklung komfortabel. Sie können auf frühere Kostensteigerungen verweisen, kalkulieren aber mit sinkenden Einkaufspreisen und halten das Endkundenniveau dennoch hoch. Ökonomisch betrachtet entspricht das einer stillen Margenausweitung.
Der Handel nutzt seine Preissetzungsmacht
Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel ist hoch konzentriert. Fünf große Gruppen kontrollieren den Markt. Wenn sich die Sortimente in der Saisonplanung verteuern, zieht die Branche meist im Gleichschritt nach. Besonders im Süßwarensegment, das stark von Marken dominiert wird, haben Verbraucher wenig Ausweichmöglichkeiten. Schokolade ist ein klassisches Produkt mit hoher Markentreue – ein Vorteil, den Hersteller und Handel in angespannten Zeiten gezielt abschöpfen können.
Hinzu kommt die Psychologie der Saisonware. Adventskalender, Nikolausfiguren und limitierte Editionen haben einen hohen Impulscharakter. Wer etwas Bestimmtes sucht, akzeptiert kurzfristig höhere Preise. Das gilt auch dann, wenn die Teuerung objektiv kaum nachvollziehbar ist.
Verbraucher geraten in die Zwickmühle
Die Verbraucherzentrale Hamburg spricht von „drastischen Preiserhöhungen“ und warnt, dass gerade einkommensschwache Haushalte belastet werden. Sie haben wenig Spielraum, um auf günstigere Alternativen umzusteigen. Während Gummibärchen, Kaugummis oder Bonbons sogar leicht billiger wurden, bleiben Schokoladenprodukte der Preistreiber Nummer eins im Süßwarensegment.
Für viele Familien bedeutet das: Entweder sie schränken typische Weihnachtstraditionen ein, oder sie akzeptieren eine unverhältnismäßige finanzielle Belastung. Die Branche liefert bislang keine überzeugende Erklärung dafür, warum die Preisreduktionen an den Rohstoffmärkten nicht an die Kunden weitergegeben werden.
Der öffentliche Druck steigt
Die Kritik der Verbraucherschützer fällt in eine Zeit, in der Konsumenten gegenüber Lebensmittelunternehmen besonders sensibel reagieren. Die Debatten über Shrinkflation, intransparente Preisstrukturen und aggressive Markenstrategien sitzen tief. Dass ausgerechnet saisonale Schokolade zum Symbol dieser Entwicklung wird, überrascht kaum: Sie ist sichtbar, emotional aufgeladen – und für viele ein Gradmesser dafür, wie fair der Markt tatsächlich funktioniert.
Die Frage, ob die Branche die Preissetzungsmacht überstrapaziert, bleibt nicht unbeantwortet. Sie zeigt sich an der Kasse.



