Der Kurswechsel fällt radikal aus und kommt doch nicht überraschend. „Erst die Wirtschaft, dann die Stadt“ – so fasst Industrieminister Bandar Al Khorayef die neue Logik zusammen.
Das Prestigeprojekt Neom war jahrelang als Hyper-City gedacht, die Bewohner anzieht und dann Firmen – jetzt kehrt das Königreich die Reihenfolge um. „The Line“ wird eingedampft, Oxagon – die schwimmende Industrie-Achter – zum Anker. Und die Industriepolitik erhält eine präzise Geometrie: Sicherheit, Veredelung, Zukunftstechnologie.
Vom Glasband zur Fabriklogik
Satellitenbilder zeigen seit Monaten: Am 170-Kilometer-Band „The Line“ geht kaum etwas voran, die Baustellen verharren. Gleichzeitig wächst dort, wo Erträge winken: Oxagon erhält ein riesiges Hafenbecken, Kräne, Flächen für Energie-, Batterie- und Wasserstofftechnik. Neom wird weniger Ikone, mehr Industriegebiet mit Showroom.
Dreh- und Angelpunkt ist die Wasserstofffabrik (Capex: 8,4 Mrd. US-$) südlich von „The Line“. Elektrolyseure von Thyssenkrupp Nucera sollen ab Ende 2026 grünen H₂ produzieren; in Ammoniak gebunden, übernimmt Air Products den Export. „Zu 80 % fertig“, sagt Al Khorayef – und bremst zugleich die Erwartungshaltung: Der Start dürfte nicht sofort profitabel werden. Entscheidend sei der Beweis der Prozesskette – von erneuerbarem Strom bis zum Schiff.

Der Marktrisikoblock: Nachfrage für H₂
Politisch gedrosselte Klimapläne, vor allem in den USA, drücken auf die anfängliche Abnahmebereitschaft. Riyadh kalkuliert länger: Die Welt dreht nicht um, aber langsamer. Wer die Supply-Chain früh beherrscht, schreibt später die Standards.
„Nicht die Autos, die Lieferkette“
In der zweiten Säule der Strategie liegt der direkte Wettbewerbsangriff: Veredeln statt Rohstoffverkauf. Das Rechenexempel aus Al Khorayefs Ministerium ist entlarvend: 1 Tonne Aluminium bringt als Rohstoff ~2.000 US-$, als präzises Autoteil ~200.000 US-$.
Genau dort will Saudi-Arabien hinein – Metalle, Kunststoffe, Chemie in Automotive-taugliche Komponenten verwandeln.
„Uns geht es gar nicht um die Montage des Autos, es geht uns um die Lieferkette.“
Für Deutschland ist das die eigentliche Botschaft: Wer Gussteile, Strukturbauteile, Batteriekomponenten, Gehäuse, Kabelbäume, Beschichtungen liefert, bekommt konkurrenzfähige Energiepreise und staatliche Flankierung – und einen Kunden, der global liefern will.
Energiekosten als Hebel – aber nicht als Dumping
Saudi-Arabien gewährt Strompreise nach Industriesegment. High-Energy-Sektoren (Aluminium) zahlen laut Minister ≈3 US-Cent/kWh.
Neue Wind- und Solarprojekte liegen mit 1,87–2,06 US-Cent/kWh LCOE in der Weltspitze. Norwegen bleibt mit 2–4 Eurocent der Benchmark – Riad ist konkurrenzfähig, nicht zwangsläufig billiger. Für energieintensive Zulieferprozesse ist das der Standortfaktor.
Sicherheit zuerst – und logistische Redundanz
Säule eins der Strategie heißt Versorgungssouveränität: Nahrung, Medizin, Wasser, Verteidigung. Für ein Wüstenland ohne Flüsse ist das mehr als Rhetorik.
Parallel plant Riad einen Eisenbahnkorridor zwischen Persischem Golf und Rotem Meer, um die Abhängigkeit von der Straße von Hormus zu verringern. Handelsströme, die nicht an Engpässen hängen – das senkt Risikoprämien für Industrieinvestitionen.
Die Zukunftsschiene: Robotik & Rechenzentren
Säule drei ist die Technologie – mit einem doppelten Ziel: Produktivität statt Billiglöhne und digitale Souveränität. Das Land investiert massiv in Robotik und KI-Infrastruktur. Mit politischer Rückendeckung in Washington wurde eine Lieferpartnerschaft mit NVIDIA geschlossen: Top-Chips und – in der Anlaufphase – 18.000 Einheiten des GB200 „Grace Blackwell“ für neue Hyperscale-Rechenzentren. Al Khorayefs Zielmarke ist klar: Weg von 70 % Gastarbeit in der Industrie – hin zu automatisierten Fabriken, die Know-how binden.
Was das für Deutschland bedeutet
1) Autozulieferer unter Druck – und mit Option:
Wer Energie- und Lohnkosten nicht durch Automatisierung, Designkompetenz und Nähe zum OEM kompensiert, bekommt einen neuen Low-Cost-/Mid-Tech-Konkurrenten. Gleichzeitig eröffnen sich Joint-Ventures: Saudi-Energie & Capex treffen deutsche Prozess- und Qualitätsführung.
2) Chemie & Werkstoffe – neue Veredelungscluster:
Sabic exportiert heute 85 % als Rohmaterial. Riad will Downstream: Compounds, Spezialpolymere, Beschichtungen vor Ort. Deutschlands Anlagenbauer und Spezialchemie können liefern – oder Marktanteile verlieren.
3) Wasserstoff-Realismus statt Romantik:
Abnahmeverträge bleiben das Nadelöhr. Wer Stücklisten dekarbonisiert, braucht verlässliche Moleküle – Ammoniak-Imports könnten eine Brückenlösung für Stahl, Düngemittel, Schifffahrt sein. Frühzeitige Offtake-Deals sichern Preis und Volumen, bevor Asien zugreift.
4) Politisches Risiko managen:
Menschenrechtsthemen, Arbeitsmigration, Regionalrisiken (Jemen, Hormus) – all das gehört in Compliance-, Versicherungs- und Lieferketten-KPIs. Der geplante Binnenkorridor reduziert, ersetzt aber keine geopolitische Due Diligence.
Der Preis der Ambition
Al Khorayefs Offenheit ist Teil der Strategie. Die alte Vision war zu groß, die neue ist kalkulierbar. Statt einer futuristischen Skyline verkauft Riad Cashflows aus Wertschöpfungstiefe. Grüner Wasserstoff wird zum Proof-of-Concept, Oxagon zur Fabrikhalle am Meer, KI-Rechenzentren zur Industrie-Cloud. Wer hier liefern will, bekommt Zugang, Energie und Tempo – aber auch Wettbewerb auf Zeit.
Schlussakkord: Saudi-Arabien verlegt die Zukunft vom Renderbild in die Stückliste. Für Europas Industrie ist das keine ferne Wüstennachricht, sondern ein Angebot – und eine Drohung. Wer Veredelung kann, wird Partner. Wer nur Rohmaterial kauft oder nur Lohnarbeit bietet, bekommt Konkurrenz. Die neue Wette Riads lautet nicht „Träume bauen“, sondern „Ketten besetzen“.
