Klausur mit Symbolik
Wenn das Kabinett in die Villa Borsig zieht, geht es nicht um Routine. Es geht um Bilder, Botschaften – und diesmal um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Ein Thema, das kaum drängender sein könnte: Stellenabbau bei Lufthansa, Bosch, ZF. Abwärtskorrekturen der Konjunktur. Eine Wirtschaft, die stöhnt unter Bürokratie, Energiekosten und Reformstau.
Kanzler Friedrich Merz weiß, dass seine Schonfrist vorbei ist. „Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist eine Minute nach zwölf“, sagte er jüngst vor Wirtschaftsvertretern. Der Ton ist ernst, die Ungeduld greifbar.
Brunnermeier statt Schularick
Die Auswahl des Gastes unterstreicht, dass Merz mehr will als Binnendebatten. Markus Brunnermeier, Princeton-Professor, kein typischer Ökonom der Berliner Republik, sondern ein Experte für internationale Finanzmärkte. Er argumentiert, dass Amerikas innere Instabilität Europas Chance sein könnte – wenn Deutschland seine Hausaufgaben macht.

Statt Steuer- oder Sozialreformtheorie geht es um Resilienz im globalen Wettbewerb. Genau der Blick, den Merz für seine „Weltinnenpolitik“ sucht.
Hoffnungsträger Wildberger
Doch die eigentliche Figur dieser Klausur ist ein Mann aus der Wirtschaft: Karsten Wildberger, Ex-Chef von MediaMarktSaturn, heute Minister für Digitalisierung und Staatsmodernisierung. Seine Agenda liest sich wie die To-do-Liste, die seit Jahren in Schubladen verstaubt: Bürokratieabbau, digitale Verwaltung, agiles Personalmanagement.

Neu ist: Diesmal soll es verbindliche Ziele geben – transparent und messbar. Und: Alle Ressorts sind mit in der Pflicht. Keine „Projektchen“, sondern eine gemeinsame Modernisierungsagenda.
In der Union wachsen die Erwartungen. Wildberger soll liefern, schnell und sichtbar. Am liebsten bei Themen, die Bürger wie Unternehmen sofort spüren – etwa eine volldigitale Zulassungsstelle oder die unkomplizierte Online-Gewerbeanmeldung.
Amthor als politisches Bindeglied
An seiner Seite: Philipp Amthor. Der junge CDU-Politiker soll Wildberger den Einstieg in die Berliner Politik erleichtern und gleichzeitig die Fraktion im Boot halten. Er koordiniert die Staatssekretäre, erklärt der Öffentlichkeit die Projekte – und achtet darauf, dass der Quereinsteiger nicht an den typischen Fallstricken des Politikbetriebs hängenbleibt.
Ein Duo, das symbolisiert, wie die Koalition ihren Reformanspruch verkaufen will: technokratisch fundiert, politisch flankiert.
Druck von außen – und innen
Der Zeitpunkt ist kein Zufall. Gerade erst haben die Spitzen der großen Wirtschaftsverbände Merz ins Gewissen geredet: Tempo, Entschlossenheit, sichtbare Erfolge. Worte, die inzwischen wie Mantras klingen, weil zu viele Anläufe der Vergangenheit im Klein-Klein versandet sind.
Merz versucht, den Vorwurf der Mutlosigkeit zu kontern. Er rüffelte jüngst sogar die eigene Partei: weniger Jammern, mehr Gestaltungswillen. Doch ohne konkrete Fortschritte droht das Narrativ vom „Herbst der Reformen“ in sich zusammenzufallen.
Das Risiko der Wiederholung
Wildbergers Agenda ist ambitioniert. Aber sie klingt auch nach Déjà-vu: Versprechen, die schon Rot-Grün, Große Koalition oder Ampel abgaben – und an Bürokratie, föderalen Blockaden und fehlendem Durchhaltewillen scheiterten.
Dieses Mal, so versichert das Kanzleramt, sei es anders. Aber was, wenn auch diese Modernisierungsoffensive wieder versandet? Dann wäre der politische Schaden immens – für Merz, für die Union, für das Vertrauen der Wirtschaft.
Aufbruch oder Absturz
Die Kulisse der Villa Borsig ist geschichtsträchtig. Einst Wohnsitz eines Industriebarons, heute Ort für Diplomaten und Regierungsklausuren. Symbol für Aufstieg – und für das, was von alten Erfolgen übrig bleibt.
Genau das ist die Botschaft, die über dem Treffen schwebt: Deutschland braucht einen Aufbruch. Nicht irgendwann, sondern jetzt. Scheitert die Klausur an eigenen Routinen, dann war es keine geschlossene Gesellschaft mit Blick nach vorn – sondern ein weiteres Kapitel im langen Buch verpasster Chancen.
