Wenn die politische Debatte zum digitalen Spektakel verkommt, ist die Geschäftsordnung oft nur noch Kulisse.
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner schlägt Alarm: Immer häufiger würden insbesondere Abgeordnete der Linkspartei und der AfD den Bundestag für kalkulierte Regelbrüche missbrauchen, um sich in den sozialen Medien zu inszenieren.
"Der Plenarsaal ist aber nicht die Bühne, um Inhalte für die digitalen Medien passgenau zu erstellen", warnte Klöckner im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Ordnungsrufe als kalkuliertes Marketinginstrument
Die Entwicklung ist nicht neu, nimmt aber sichtbar Fahrt auf. Ordnungsrufe, Rügen und Sitzungsverweise werden von Teilen der Opposition längst als politische Trophäen in Szene gesetzt.
Jede Konfrontation wird zur Futterquelle für TikTok, X und Instagram. "Es geht um die Auseinandersetzung in der Sache durch das Wort – nicht um Inszenierungen für den Algorithmus", stellt Klöckner klar.
Insbesondere Linkspartei und AfD scheinen die Eskalation gezielt einzusetzen. Die CDU-Politikerin beklagt: "Gerade ist zu beobachten, dass es mehrere Kandidaten für den ersten Platz bei Regelverstößen gibt."
Der Versuch, parlamentarische Ordnungsmaßnahmen in Likes und Follower umzumünzen, sei gefährlich für die Würde des Hauses.

Zwischen T-Shirt, Baskenmütze und Staatsraison
Jüngster Höhepunkt der Debatte: Klöckners Saalverweis gegen die Linken-Abgeordnete Cansin Köktürk, die mit einem T-Shirt mit der Aufschrift "Palestine" im Plenarsaal erschienen war.
Nur zwei Wochen zuvor musste Fraktionskollege Marcel Bauer den Saal wegen einer getragenen Baskenmütze verlassen. Für Klöckner geht es um mehr als nur Kleidervorschriften: "Das Parlament ist natürlich kein Laufsteg."
Die CDU-Politikerin verweist auf die Würde des Hauses. Wer sich bewusst über Kleiderordnung und parlamentarische Gepflogenheiten hinwegsetze, teste systematisch die Grenzen der Institution aus.
Dass man überhaupt über angemessene Kleidung diskutieren müsse, sei Ausdruck einer schleichenden Aushöhlung der parlamentarischen Kultur.
Zwischen Institutionenschutz und politischem Kalkül
Hinter dem Streit um Modefragen steht eine grundsätzliche Auseinandersetzung über den Zustand der parlamentarischen Demokratie. Die Debattenkultur im Bundestag droht sich in ritualisierte Provokationen und kalkulierte Eklats aufzulösen.
Während in den sozialen Medien jeder Ordnungsruf zur viralen Empörungsschleife wird, gerät die eigentliche Auseinandersetzung um politische Inhalte ins Hintertreffen.
Für Bundestagspräsidentin Klöckner steht die Institution im Zentrum. Der Bundestag dürfe nicht zum Spielball parteitaktischer Inszenierungen verkommen, so ihre klare Botschaft.
Gleichzeitig wächst der Druck: Je härter das Präsidium durchgreift, desto attraktiver wird der Regelbruch für Abgeordnete, die gezielt auf Konfrontation setzen. Eine politische Dynamik, die nur schwer zu entschärfen sein dürfte.
Ein gefährlicher Wettlauf um die Provokation
Im Kern offenbart sich ein gefährliches Paradoxon: Je stärker die Geschäftsordnung durchgesetzt wird, desto wirkungsvoller lässt sich die Konfrontation für die eigene Wählerschaft medial ausschlachten.
Für viele Abgeordnete wird der Ordnungsruf so zum kalkulierten Karriereschritt im Kampf um Reichweite und Aufmerksamkeit.
Die Frage, wie lange das Gleichgewicht zwischen demokratischer Auseinandersetzung und politischer Show noch hält, bleibt offen. Klöckner jedenfalls hat die Fronten klar abgesteckt. Ob es ihr gelingt, den Bundestag langfristig als Ort der Debatte und nicht der Inszenierung zu bewahren, wird eine der großen Fragen der kommenden Legislatur bleiben.
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