Ein geplatzter Auftritt vor laufenden Kameras
Die Bühne war bereitet, die Kameras liefen, die Journalisten warteten. Es sollte ein gemeinsamer Moment werden – Union und SPD wollten ihren Kompromiss zum neuen Wehrdienst vorstellen. Doch statt der Fraktionsvize Norbert Röttgen (CDU) und Siemtje Möller (SPD) trat nur ein CDU-Mitarbeiter ans Pult. Seine Botschaft war kurz: Die Pressekonferenz fällt aus.
Hinter diesem unspektakulären Satz steckt ein politischer Sprengsatz. Kurz vor dem Termin hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius in der SPD-Fraktion Stimmung gegen den Kompromiss gemacht – gegen ein Gesetz, das aus seinem eigenen Haus stammt. Was folgte, war ein Eklat, der den ohnehin brüchigen Zusammenhalt der Koalition weiter schwächt.
Der Kern des Streits: Kontrolle über den Wehrdienst
Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Frage, wer künftig entscheidet, wann aus Freiwilligkeit Pflicht wird. Der Bundestag wollte klare Zielmarken festlegen – also verbindlich definieren, wie viele Freiwillige, Zeit- und Berufssoldaten bis wann gewonnen werden müssen. Pistorius sollte dem Parlament regelmäßig Bericht erstatten, um die Fortschritte transparent zu machen.
Ein Instrument demokratischer Kontrolle – doch genau das wollte der Minister verhindern. Er wehrte sich gegen die geplanten Berichtspflichten und warf den Abgeordneten vor, sein Ressort an die kurze Leine legen zu wollen.
Das geplante Stufenmodell – zwischen Freiwilligkeit und Pflicht
Der Entwurf, auf den sich SPD und Union geeinigt hatten, sah ein vierstufiges Modell vor:
Stufe 1: Freiwilligkeit. Junge Menschen sollten durch bessere Bedingungen, mehr Anreize und gezielte Werbung für den Dienst in der Bundeswehr gewonnen werden.
Stufe 2: Zufallsverfahren. Reichen die Freiwilligen nicht, sollen per Los junge Männer zu einer verpflichtenden Musterung eingeladen werden.
Stufe 3: Bedarfswehrpflicht. Wenn auch das nicht genügt, kann der Bundestag beschließen, dass ein Teil des Jahrgangs – ebenfalls per Los – zum Dienst verpflichtet wird.
Stufe 4: Allgemeine Wehrpflicht im Spannungs- oder Verteidigungsfall, wie es die Verfassung vorsieht.
Ein juristisches Gutachten des früheren Verfassungsrichters Udo Di Fabio bestätigte: Das Modell ist verfassungskonform. Es verletzt weder das Gleichheitsprinzip noch die Wehrpflichtregelung im Grundgesetz.
Pistorius blockiert – und zündet in der SPD ein Feuer
Dass Pistorius die Reform auf den letzten Metern stoppte, kam für viele in seiner Partei überraschend. Noch am selben Tag hatten SPD-Fraktionschef Michael Miersch und sein CDU-Gegenüber Jens Spahn den Entwurf als „tragfähige Grundlage“ bezeichnet. Doch der Minister torpedierte das Projekt – offenbar, um zu verhindern, dass das Parlament ihm konkrete Vorgaben macht.
In der SPD sorgte das für Wut. „Der Minister hat die Fraktion angezündet“, sagte ein CDU-Abgeordneter. Selbst Sozialdemokraten sprachen hinter vorgehaltener Hand von einem „unprofessionellen Alleingang“.
Machtfrage statt Sachfrage
Dass Pistorius ausgerechnet bei diesem Thema auf stur schaltet, hat Symbolkraft. Seit Monaten kämpft die Bundesregierung darum, den Verteidigungsapparat zu reformieren und die Bundeswehr nach Jahren des Sparkurses wieder einsatzfähig zu machen. Statt Geschlossenheit liefert Berlin nun ein Bild des Misstrauens.
Die Union wollte Pistorius an die Pflicht zur Transparenz binden, er selbst wollte freie Hand. Es ist die alte Frage zwischen Regierung und Parlament: Vertrauen oder Kontrolle? Im Ergebnis bleibt Stillstand – und ein beschädigter Minister.
Ein Minister mit großem Namen und wachsendem Risiko
Boris Pistorius galt lange als einer der beliebtesten Politiker Deutschlands. Ein Mann, der zupackt, pragmatisch, bodenständig, beliebt bei Soldaten wie Bürgern. Doch gerade dieser Ruf steht nun auf dem Spiel. Wer Stärke zeigen will, darf sich keine politischen Kurzschlüsse leisten.
Mit seinem Vorgehen hat Pistorius nicht nur ein Gesetz blockiert, sondern das Vertrauen seiner eigenen Partei aufs Spiel gesetzt. Der Streit trifft die SPD ins Mark – und kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die Ampel ohnehin an allen Fronten unter Druck steht.
Was bleibt: ein Minister ohne Mehrheit
Ob der Wehrdienst-Entwurf überhaupt noch im Bundestag beraten wird, ist unklar. Ein Sprecher der Union erklärte nüchtern, man wisse „nicht, wann die erste Lesung stattfinden wird“. Hinter den Kulissen wird fieberhaft nach einem Ausweg gesucht.
Klar ist: Pistorius hat der Koalition die nächste Krise beschert. In einer Phase, in der Deutschland über seine Wehrhaftigkeit, seine Rolle in Europa und seine Bündnistreue nachdenkt, sendet Berlin das denkbar schlechteste Signal – Uneinigkeit.
