Die Pflegeversicherung lebt von Bundesdarlehen
4,2 Milliarden Euro hat der Bund den Pflegekassen inzwischen vorgestreckt. Kredite, keine Zuschüsse. Sie halten das System derzeit über Wasser, mehr nicht. „Die Finanzierung ist auf Kante genäht“, sagt Blatt. Für 2026 reiche das Geld rechnerisch gerade so. Danach klafft eine Lücke, die sich nicht mehr kaschieren lässt.
Schon im Februar 2025 musste erstmals eine Pflegekasse Liquiditätshilfen aus dem Ausgleichsfonds beantragen, um eine Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden. Ein Präzedenzfall. Weitere dürften folgen. Ab 2027, wenn die Kreditlinien ausgeschöpft sind, fehlt Geld in einer Größenordnung von rund 0,3 Beitragssatzpunkten. Ohne strukturelle Reformen ist das nicht zu schließen.

Liquiditätshilfen sind kein tragfähiges Modell
Formal ist der Mechanismus geregelt: Gerät eine Pflegekasse in Schieflage, springt der Ausgleichsfonds ein. Politisch aber ist das ein Alarmzeichen. Ein Versicherungssystem, das regelmäßig Notfallhilfen braucht, funktioniert nicht mehr.
Blatt spricht offen aus, was viele hinter vorgehaltener Hand sagen: Die aktuelle Architektur der Pflegeversicherung ist nicht reformiert, sondern verlängert worden. Die Defizite sind real, die Ausgaben steigen schneller als die Einnahmen, und der demografische Effekt erklärt nur einen Teil des Problems.
Die Reform von 2017 wirkt bis heute nach
Besonders heikel ist Blatts Diagnose zur Pflegebedürftigkeit selbst. Die Reform von 2017, die das System der Pflegegrade einführte, sei „sehr großzügig“ gewesen. Das Ergebnis: Die Zahl der Pflegebedürftigen hat sich seitdem nahezu verdoppelt – von rund drei auf fast sechs Millionen Menschen.
Nach Einschätzung des GKV-Spitzenverbands lässt sich dieser Anstieg nur zu einem geringen Teil mit der Alterung der Gesellschaft erklären. Der größere Hebel liegt in den Kriterien selbst. Wer heute als pflegebedürftig gilt, hätte vor der Reform oft keinen Anspruch gehabt. Genau hier setzt Blatts Forderung an.

Höhere Hürden für Pflegebedürftigkeit werden zum politischen Sprengstoff
Blatt spricht sich dafür aus, die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Pflegebedürftigkeit zu verschärfen. Ein Vorschlag, der politisch hochsensibel ist. Jede Verschärfung bedeutet, dass Menschen Leistungen verlieren oder gar keinen Anspruch mehr haben.
Doch aus Sicht der Krankenkassen ist das Tabu nicht mehr zu halten. „Wir dürfen das nicht mehr so laufen lassen“, sagt Blatt. Ohne eine Neubewertung der Pflegegrade lasse sich die Ausgabendynamik nicht bremsen. Der Reformbedarf sei offensichtlich, werde aber politisch verdrängt.
Die Bund-Länder-Runde bleibt hinter der Lage zurück
Umso größer ist die Enttäuschung über die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegereform. Anfang Dezember legte sie vor allem eine Bestandsaufnahme vor – ohne belastbare Finanzierungsvorschläge. Für Blatt ein weiteres Zeichen, dass die Dramatik unterschätzt wird.
„Ich habe den Eindruck, die Brisanz der Lage ist immer noch nicht allen Beteiligten klar“, sagt er. Während Kassen um Liquidität ringen, wird auf politischer Ebene vertagt, moderiert und vertieft analysiert. Zeit, die das System nicht mehr hat.
Fachkräftemangel verschärft die finanzielle Schieflage
Parallel zur Finanzkrise wächst das strukturelle Problem des Personalmangels. Mehr Pflegebedürftige treffen auf zu wenige Pflegekräfte. Höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und zusätzliche Leistungen treiben die Kosten weiter nach oben – notwendige Maßnahmen, die das Finanzierungssystem aber zusätzlich belasten.
Die Pflegeversicherung steht damit an mehreren Fronten unter Druck: mehr Anspruchsberechtigte, höhere Leistungsversprechen, steigende Personalkosten und eine Finanzierung, die bereits heute nur mit staatlichen Krediten funktioniert.
Am Ende läuft alles auf eine unbequeme Wahrheit hinaus: Ohne Einschnitte, höhere Beiträge oder eine grundlegende Neudefinition dessen, was die Pflegeversicherung leisten soll, ist das System nicht mehr zu stabilisieren. Die Frage ist nicht mehr, ob reformiert wird – sondern wer den politischen Preis dafür zahlt.



