02. August, 2025

Warum Millionen trotz Vollzeitjob nicht über 3.500 Euro brutto kommen

Immer mehr Menschen schuften 40 Stunden pro Woche – und können sich kaum das Leben leisten, das sie damit finanzieren sollen. Die Zahlen aus Berlin zeigen ein strukturelles Problem, das sich in Zukunft bitter rächen dürfte.

Warum Millionen trotz Vollzeitjob nicht über 3.500 Euro brutto kommen
Jede Arbeitsstunde kostet Arbeitgeber im Schnitt 43,40 Euro – beim Arbeitnehmer bleibt oft nur die Hälfte an Netto.

Die Lohnillusion: Viel Arbeit, wenig Netto

Keine Ausreden, keine Umwege – die Zahlen sprechen für sich. Rund 40 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten in Deutschland verdienen unter 3.500 Euro brutto im Monat.

Jeder Fünfte schafft nicht einmal die Marke von 2.750 Euro. Wer glaubt, das betreffe vor allem ungelernte Kräfte oder Teilzeitbeschäftigte, liegt falsch: Das ist das neue Normal im deutschen Arbeitsmarkt.

Was das bedeutet? Für viele reicht ein Vollzeitgehalt nicht mehr für ein Leben ohne Sorgen. Erst recht nicht für ein Alter in Würde.

Ein Arbeitsmarkt auf Kante genäht

Die Zahlen stammen nicht aus irgendeiner NGO-Broschüre, sondern direkt aus dem Bundesarbeitsministerium.

Die Anfrage des Linken-Fraktionschefs Dietmar Bartsch bringt einen Nerv der Gesellschaft zum Vibrieren: 9,2 Millionen Menschen arbeiten Vollzeit und kommen dennoch nicht über 3.500 Euro brutto hinaus. Das ist nicht nur ein Armutszeugnis für den Sozialstaat – es ist eine tickende Zeitbombe.

Denn bei anhaltender Inflation, steigenden Mieten, Energiepreisen und Lebenshaltungskosten reicht dieses Gehalt in vielen Regionen kaum zum Leben – von Rücklagen, Kindern oder Altersvorsorge ganz zu schweigen.

Armut per Arbeitsvertrag

Bartsch nennt es „ein millionenfaches Lohnproblem“. Das ist höflich formuliert. Tatsächlich erleben wir eine Entkoppelung von Arbeit und Wohlstand.

Wer unter 3.300 Euro verdient – was derzeit rund 20 Euro Stundenlohn entspricht – rutscht laut Berechnungen der Bundesregierung im Alter unter das Niveau der Armutsgefährdung.

Mehr als 9 Millionen Vollzeitbeschäftigte verdienen unter 3.500 Euro brutto – trotz Fachkräftemangel und Rekordinflation.

Das betrifft nicht nur Geringqualifizierte oder Teilzeitkräfte, sondern ganz normale Arbeitnehmer in Pflege, Handel, Verwaltung oder Industrie, teils mit Berufsausbildung und jahrelanger Erfahrung.

Weltmeister bei Abzügen

Deutschland hat eines der teuersten Lohnsysteme der Welt. Eine Stunde Arbeit kostete 2024 laut Statistischem Bundesamt durchschnittlich 43,40 Euro – inklusive aller Sozialabgaben.

Was davon beim Arbeitnehmer ankommt, ist allerdings oft nicht einmal die Hälfte. Wer zum Beispiel 3.500 Euro brutto verdient, hat nach Abzug von Steuern, Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung oft nicht mehr als 2.300 Euro netto. Und davon sollen dann noch Rücklagen gebildet werden.

Mehr leisten, weniger behalten

Im Vergleich zur EU liegt Deutschland bei den Lohnstückkosten rund 30 Prozent über dem Schnitt. Ein Hochlohnland? Ja – aber nicht für den Arbeitnehmer. Die Lohnnebenkosten fressen den Aufstieg. Arbeitgeber zahlen, Arbeitnehmer zahlen – aber das System spart sich arm.

Ein Mindestlohn ohne Mindestabsicherung

Die Bundesregierung will den gesetzlichen Mindestlohn bis Anfang 2027 auf 14,60 Euro anheben. Das klingt vernünftig, ist aber zu wenig – und zu spät, sagen Ökonomen. Bartsch fordert 15 Euro – doch selbst das ist knapp kalkuliert.

Die Armutsgrenze liegt derzeit bei 1.378 Euro netto. Jeder Sechste in Deutschland lebt bereits darunter. Bei den Rentnern ist es fast jeder Fünfte.

Und wer heute 2.750 Euro brutto verdient, also rund 1.900 Euro netto, hat in Wahrheit keine Chance, eine ausreichende gesetzliche Rente aufzubauen – auch nicht nach 45 Beitragsjahren.

Stillstand mit Ansage

Dass die Bundesregierung trotz dieser Zahlen keine strukturellen Änderungen plant, ist bemerkenswert – und gefährlich.

Denn mit jedem Jahr, in dem sich zu wenig tut, steigt die Zahl derer, die später Grundsicherung beantragen müssen, obwohl sie ihr ganzes Leben gearbeitet haben. Das belastet nicht nur die öffentlichen Haushalte, sondern auch das Vertrauen in die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft.


Lesen Sie auch:

Comeback auf Raten – warum Delivery Hero noch nicht vom Tisch ist
Nach Kurssturz schöpfen Anleger wieder Hoffnung: UBS sieht Fortschritte beim Sorgenkind Baemin. Doch reicht das für eine nachhaltige Wende bei Deutschlands ambitioniertestem Essenslieferanten?

Sozialstaat in Schieflage

Ein Sozialsystem, das nur funktioniert, wenn die Beschäftigten möglichst wenig verdienen, ist kein nachhaltiges Modell. Und eine Arbeitswelt, in der man Vollzeit arbeitet und trotzdem unterhalb der Armutsgrenze landet, verliert ihre Legitimation.

Die Zahlen aus dem Bundesarbeitsministerium zeigen: Wir steuern auf eine neue Phase der Altersarmut zu – diesmal mitten aus der Mitte der Gesellschaft.

Wer bezahlt den Preis?

Die große Ironie: Die Lohnzurückhaltung, die Unternehmen jahrzehntelang stärkte, rächt sich nun auf der Nachfrageseite. Menschen mit wenig Einkommen konsumieren weniger, investieren nicht, gründen seltener Familien. Es ist ein strukturelles Risiko für die Volkswirtschaft – nicht nur ein moralisches Versagen.

Ein Land spart sich kaputt

Die Bundesregierung spricht gern von Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit. Doch wer die Arbeitswirklichkeit ignoriert, riskiert beides. Die Löhne stagnieren, die Steuern und Abgaben bleiben hoch, und das Vertrauen in die soziale Balance bröckelt.

Die Frage ist nicht, ob wir mehr zahlen können. Die Frage ist, wie lange wir uns diesen Niedriglohn-Status quo noch leisten wollen – wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich.

Das könnte Sie auch interessieren:

Warum United Utilities Anlegern gerade richtig Freude macht
Der britische Versorger hebt seine Ausschüttung erneut an – mit 5,14 Prozent Dividendenrendite liegt das FTSE-100-Unternehmen weit über dem Marktdurchschnitt. Doch was steckt hinter der Ausschüttungspolitik?