20 Jahre Stillstand: Vom Konzernwunder zur Renditewette
Im Jahr 2005 war Nestlé der Inbegriff schweizerischer Effizienz: 91,1 Milliarden Franken Umsatz, acht Milliarden Gewinn. Damals galt das „Nestlé-Modell“ als Blaupause für globale Markenführung.
Zwei Jahrzehnte später sind Umsatz und Gewinn kaum höher – in Franken gerechnet sogar leicht darunter. Die Aktie? Hat sich zwar im Wert verdoppelt, aber die Geschichte der letzten Jahre ist keine der Stabilität, sondern eine des schleichenden Abstiegs.
70 statt 130 Franken: Anleger nehmen Reißaus
Seit Anfang 2022 hat sich der Börsenwert nahezu halbiert. Die Aktie fiel von 130 auf knapp über 70 Franken – für viele institutionelle Investoren ein Warnsignal.
Und das nicht ohne Grund: Drei Jahre in Folge schrumpfender Umsatz, Gewinnrückgänge und eine wachsende Skepsis gegenüber dem Geschäftsmodell. Die Nestlé-Aktie ist heute keine Qualitätsaktie mehr – sondern eine Sanierungsstory mit Dividendenanker.
Wer braucht noch Maggi?
Nestlé lebt von Marken, die früher als unschlagbar galten. KitKat, Maggi, Nescafé, Perrier, Mövenpick – kaum ein Haushalt in Europa ohne Nestlé. Doch das Markenvertrauen erodiert. Junge Konsumenten meiden Konzerne, Supermarkt-Eigenmarken sind besser und günstiger geworden.
Gleichzeitig trifft Nestlé der Trend zu weniger verarbeiteten Lebensmitteln und wachsender Ernährungsbewusstheit frontal.
Reputationsprobleme und Imagekrisen
Hinzu kommen hausgemachte Probleme. Immer wieder steht Nestlé in der Kritik: wegen Wasserprivatisierung in armen Regionen, wegen Babynahrung, wegen Umweltbilanz.
In Frankreich etwa sorgte der Vorwurf illegaler Aufbereitungsmethoden bei Mineralwasser für Schlagzeilen. Boykottaufrufe gegen das Unternehmen sind mittlerweile kein Randphänomen mehr, sondern regelmäßig trending.
Ulf Mark Schneiders Abgang – und Freixes Plan
Nach anhaltender Kritik und strategischer Lähmung musste CEO Ulf Mark Schneider im Frühjahr seinen Platz räumen. Sein Nachfolger Laurent Freixe ist ein Nestlé-Veteran, seit fast 40 Jahren im Unternehmen.
Er kennt die Abläufe, kennt das Portfolio, kennt die Probleme – und will nun alles auf einmal lösen: Wassergeschäft ausgliedern, Kaffee und Tiernahrung stärken, defizitäre Sparten behalten und „wieder flott machen“. Mehr Marketing, weniger Restkosten. Das klingt nach viel. Aber nicht nach einem klaren Weg.
Die Börse glaubt nicht mehr an das Modell
Der Kapitalmarkt reagiert entsprechend ernüchtert. Die Kursverluste der letzten Monate zeigen: Auch Freixe hat noch kein Vertrauen aufgebaut. Die angekündigten Veränderungen bleiben vage.
Von Innovation, Digitalisierung oder disruptivem Denken fehlt jede Spur. Der einstige Weltmarktführer wirkt strategisch müde. Das Portfolio ist groß, aber wenig zukunftsfähig.
4,3 % Dividende – aber wie lange noch?
Was Nestlé aktuell überhaupt noch auf dem Radar von Langfristinvestoren hält, ist die Dividendenrendite. Mit 4,3 Prozent gehört sie zu den höchsten unter den großen Konsumgüterkonzernen.
Doch der Preis ist hoch: Drei Viertel des Gewinns werden ausgeschüttet. Gleichzeitig hat sich die Nettoverschuldung in zehn Jahren fast vervierfacht – von 15 auf 56 Milliarden Franken. Spielraum sieht anders aus.
Attraktive Bewertung – trügerische Sicherheit
Zugegeben: Das KGV von 18 ist für Nestlé historisch betrachtet nicht teuer. Aber wer kauft hier eigentlich? Value-Investoren mit Hoffnung auf Turnaround? Oder Dividendenjäger, denen egal ist, ob Wachstum kommt? In beiden Fällen bleibt das Risiko: Ohne klare Strategie bleibt die Aktie eine Wette auf einen Konzern, der mehr verwaltet als gestaltet.
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