Washington setzt die neue Prioritätenkarte durch
Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA markiert eine tektonische Verschiebung. Erstmals beschreibt ein amerikanisches Grundsatzpapier Europa nicht mehr als Partnerraum, sondern als Region mit abnehmender Bedeutung. Im Zentrum steht die Wiederbelebung der Monroe-Doktrin: die politische und wirtschaftliche Abschottung der westlichen Hemisphäre gegenüber Einflussnahme von außen. Die Botschaft ist klar formuliert – Amerika konzentriert sich auf Amerika.
Der Text bezeichnet die globale Präsenz der USA als überdehnt. Washington kündigt an, Kräfte aus Einsatzgebieten abzuziehen, deren „relative Bedeutung“ gesunken sei. Europa steht implizit ganz oben auf dieser Liste. Die strategische Logik dahinter ist kein Geheimnis: Die US-Regierung will Bedrohungen im eigenen Umfeld priorisieren und von Verbündeten eine sicherheitspolitische Selbstbehauptung verlangen, die sie selbst nicht länger garantieren will.

Europa wird für den Ukraine-Krieg verantwortlich gemacht
Der Abschnitt zu Europa ist so direkt formuliert wie kein amerikanisches Regierungsdokument zuvor. Die Administration wirft europäischen Regierungen vor, den Ukraine-Krieg zu verlängern, anstatt ihn zu beenden. Die Kritik richtet sich nicht gegen militärische Entscheidungen, sondern gegen politische Prozesse: zu langsam, zu zerstritten, zu wenig repräsentativ.
Washington spricht von einer „Erosion demokratischer Strukturen“ und „instabilen Minderheitsregierungen“, die den Wunsch nach Frieden ignorierten. Besonders umstritten ist die Passage, die behauptet, die eigentliche Bedrohung Europas gehe nicht von Russland, sondern von Europas eigenen politischen Eliten aus. Damit übernimmt das Weiße Haus Argumentationsmuster, die bislang vor allem im rechtspopulistischen Spektrum zirkulierten.
Migration, Identität und Souveränität werden sicherheitspolitisch aufgeladen
Das Papier benennt vier Faktoren, die Europa in den Augen Washingtons geschwächt haben: migrationspolitische Entscheidungen, eine angebliche Zensur von Meinungsfreiheit, die Rolle supranationaler Institutionen und sinkende Geburtenraten.
Die Wortwahl ist außergewöhnlich für ein offizielles US-Regierungsdokument. Die Behauptung, einige Nato-Staaten würden durch Migration „in wenigen Jahrzehnten nicht mehr europäisch“ sein, ist ein politisches Signal Richtung rechter Bewegungen in der EU. Dass die Strategie an anderer Stelle explizit „patriotische europäische Parteien“ lobt, ist ein Bruch mit der bisherigen außenpolitischen Tradition der USA, in der Loyalität gegenüber Institutionen der NATO und EU als strategischer Kern galt.
Deutschlands China-Politik wird zum Sicherheitsrisiko erklärt
Kein europäisches Land wird so prominent kritisiert wie Deutschland. Die US-Regierung beschreibt die über Jahrzehnte gepflegte Vorstellung eines „Wandels durch Handel“ nicht nur als Illusion, sondern als strategischen Fehler.
Deutschland rücke mit seinen Unternehmensinvestitionen in China in gefährliche Abhängigkeiten – verschärft durch russisches Gas, das über chinesische Produktionsketten indirekt wieder Bedeutung erhalte. Das Beispiel BASF dient als Beleg: Milliardeninvestitionen in Guangdong werden im Dokument als Indikator einer Fehlentwicklung gewertet, die im Falle eines Taiwan-Konflikts dramatische Auswirkungen haben könnte.
Für Washington ergibt sich daraus ein klares Szenario: Europa könnte wirtschaftlich und sicherheitspolitisch in eine doppelte Abhängigkeit geraten – von chinesischen Lieferketten und von amerikanischem Schutz, der zugleich zunehmend unter Vorbehalt steht.
Taiwan rückt ins Zentrum der amerikanischen Abschreckung
In der geopolitischen Rangfolge des Strategiepapiers nimmt der Indopazifik eine herausragende Rolle ein. Taiwan wird als entscheidender Faktor beschrieben – wirtschaftlich, sicherheitspolitisch und technologisch. Die USA bekräftigen, dass eine militärische Überlegenheit in der Region zentral sei, um eine Eskalation zu verhindern.
Die Klarheit der Formulierungen überrascht Beobachter, die zuletzt über amerikanische Zugeständnisse an China spekuliert hatten. Nun signalisiert die Regierung das Gegenteil: Taiwan bleibt integraler Bestandteil der US-Sicherheitsarchitektur. Europa erscheint in diesem Kontext nur noch als flankierende Größe – relevant, aber nicht richtungsweisend.
Die transatlantische Ordnung wird neu vermessen
Die neue Sicherheitsstrategie liest sich wie ein Wendepunkt: Die USA definieren ihre Rolle gegenüber Europa radikal neu, teils im Tonfall einer innerpolitischen Abrechnung. Die Prioritäten liegen in der eigenen Hemisphäre und im Indopazifik; Europa wird zum sicherheitspolitischen Risiko, nicht zum Stabilitätsanker.
Für Deutschland und die EU bedeutet das: Ein Jahrzehnt der strategischen Gewissheiten geht zu Ende. Das Vakuum füllt sich nicht automatisch – und die Akteure, die es besetzen wollen, stehen bereits bereit.


