Die Ansage ist klar, der Befund ebenso. Friedrich Merz will, dass die Deutschen mehr arbeiten. Weniger Viertagewoche, weniger Work-Life-Balance, mehr Wirtschaftsleistung. Doch während die politische Rhetorik auf Produktivität zielt, entwickelt sich der Arbeitsmarkt in die entgegengesetzte Richtung. Deutschland wird zur Teilzeitrepublik – mit wachsenden Folgen für Wachstum, Renten und den Staatshaushalt.
Teilzeit ist kein Randphänomen mehr
Fast ein Drittel aller Erwerbstätigen arbeitete 2024 in Teilzeit. Vor zwanzig Jahren war es nicht einmal jeder Fünfte. Der Trend ist stabil, langfristig und tief im Arbeitsmarkt verankert. Er verschwindet nicht mit Appellen aus dem Kanzleramt.
Gleichzeitig verschärft sich das demografische Problem. Bis 2039 erreichen mehr als 13 Millionen Menschen das Rentenalter. Selbst in einer konjunkturell schwachen Phase bleibt der Arbeitskräftemangel strukturell bestehen. Weniger Arbeitsstunden treffen damit auf weniger Arbeitskräfte – eine doppelte Belastung für Wachstum und Versorgung.
Produktivität leidet unter fehlenden Stunden
Die Produktivität stagniert seit Jahren, in einzelnen Phasen ist sie sogar gesunken. Mehr Arbeitsstunden bedeuten nicht automatisch mehr Effizienz, aber ohne zusätzliche Stunden lassen sich Wachstumsverluste kaum kompensieren. In Branchen wie Pflege, Gastronomie oder Handel zeigen sich die Engpässe bereits heute.
Ökonomisch ist die Rechnung simpel: Fehlen Arbeitskräfte, fehlen Leistungen. Das bremst Wertschöpfung, erhöht Preise und verschärft Versorgungsprobleme. Der Wohlstand, den die Politik sichern will, steht auf einer immer schmaleren Stundenbasis.
Teilzeit ist vor allem weiblich
Der Blick auf die Zahlen führt zwangsläufig zu den Frauen. Während nur gut jeder neunte Mann in Teilzeit arbeitet, ist es bei Frauen fast jede zweite. Bei Müttern sogar rund zwei Drittel. Hausarbeit und Pflege sind in diesen Zahlen nicht enthalten – sie kommen obendrauf.
Deutschland gehört damit europaweit zu den Ländern mit dem höchsten Anteil weiblicher Teilzeitbeschäftigung. Besonders brisant: Auch hochqualifizierte Frauen bleiben oft in Teilzeit, selbst wenn keine kleinen Kinder mehr betreut werden müssen. Das ist kein individuelles Versäumnis, sondern ein systemisches Muster.
Milliardenpotenzial bleibt ungenutzt
Wie teuer dieses Muster ist, lässt sich beziffern. Würden Staat und Unternehmen Frauen eine stärkere Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglichen, könnte die Wirtschaftsleistung bis 2030 um rund 18 Milliarden Euro steigen. Zusätzlich kämen Milliarden an Steuern und Sozialabgaben hinzu.
Langfristig trifft Teilzeit vor allem die Betroffenen selbst. Frauen beziehen im Alter im Schnitt deutlich geringere Renten als Männer. Die Teilzeitrepublik produziert damit nicht nur Wachstumslücken, sondern auch Altersarmut.
Der Staat setzt falsche Anreize
Kinderbetreuung und Pflegeangebote sind ein Faktor, aber nicht der einzige. Das Steuer- und Sozialversicherungssystem belohnt ungleiche Erwerbsmodelle. Ehegattensplitting, Minijobs und beitragsfreie Mitversicherung machen es rational, Arbeitszeit nicht auszuweiten.

Wer mehr arbeitet, verliert oft finanzielle Vorteile. Wer weniger arbeitet, wird geschont. Der Staat fördert damit genau das Verhalten, das er politisch beklagt. Prämien für Mehrarbeit ändern daran wenig, solange die strukturellen Fehlanreize bestehen bleiben.
Teilzeit ist auch ein Arbeitgebermodell
Der Ruf nach Abschaffung des Teilzeitanspruchs greift zu kurz. Unternehmen selbst setzen gezielt auf Teilzeit. Zwischen zehn und zwölf Prozent aller ausgeschriebenen Stellen sind Teilzeit- oder Minijobs – und das seit Jahren.
Besonders hoch ist der Anteil im Gesundheitswesen, im Sozialbereich und im Gastgewerbe. Kaum gesucht wird Teilzeit dagegen in Führungspositionen oder im Ingenieurwesen. Der Arbeitsmarkt spiegelt damit eine funktionale Arbeitsteilung wider: Flexibilität unten, Präsenz oben.
Für viele Betriebe ist Teilzeit kein Zugeständnis, sondern ein Geschäftsmodell. Ohne Teilzeitkräfte ließen sich Öffnungszeiten, Schichtsysteme und Kostendruck kaum bewältigen.
Mehr Arbeit erfordert mehr als Appelle
Der Kanzler kann mehr Arbeit fordern. Durchsetzen lässt sie sich nur, wenn das System sie belohnt. Das bedeutet: bessere Betreuung, reformierte Steueranreize, klare Rückkehrwege aus der Teilzeit und eine ehrliche Debatte über Rollenverteilungen.
Solange Vollzeit wirtschaftlich unattraktiv bleibt und Teilzeit strukturell begünstigt wird, bleibt die Teilzeitrepublik Realität. Der Preis dafür wird nicht in Wahlkampfreden gezahlt, sondern in entgangener Wertschöpfung, niedrigeren Renten und einem Arbeitsmarkt, der seine eigenen Engpässe produziert.
Mehr Arbeit ist kein Moralappell. Es ist eine Systemfrage.


