Arbeiten, bis der Rücken knackt – oder die Rentenkasse kippt
Die Warnung kommt nicht beiläufig, sondern mit Ansage: Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) will die Deutschen länger arbeiten lassen.
Ihre Begründung: Die Menschen werden älter, die Kassen leerer – und der internationale Vergleich sei ernüchternd. In den USA werden laut Reiche im Schnitt 1.800 Stunden pro Jahr gearbeitet, in Deutschland nur 1.340. Das könne auf Dauer nicht gutgehen.
„Es kann nicht sein, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen“, sagte Reiche der FAZ.
Wer sich der demographischen Realität verweigere, gefährde das gesamte soziale Fundament des Landes.
Die Aussage klingt provokant – und ist es auch. Vor allem, weil sie nicht von einem liberalen Hardliner stammt, sondern von einer CDU-Ministerin, die selbst aus einem Bundesunternehmen kommt, das jahrzehntelang vom Sozialstaat getragen wurde: der Deutschen Bahn.
Eine alte Debatte mit neuer Dringlichkeit
Reiches Vorstoß trifft einen Nerv – und einen wunden Punkt. Seit Jahren wird gewarnt, dass das Rentensystem ohne Reformen nicht tragfähig bleibt.
Der „doppelte Alterungseffekt“ – weniger Erwerbstätige, mehr Rentner – treibt die Beitragssätze bereits heute an die Schmerzgrenze. Hinzu kommen steigende Kosten in Pflege, Gesundheit und Grundsicherung.
Doch die politische Debatte bleibt träge. Im Koalitionsvertrag der Ampel findet sich keine echte Reform der Lebensarbeitszeit. SPD und Grüne haben sich auf Rentenversprechen festgelegt, nicht auf Systemkorrekturen. Reiche bricht mit dieser Stillhaltung – bewusst, wie sie betont.

Reiche gegen die soziale Wirklichkeit?
Dass die Aussage nicht überall gut ankommt, überrascht nicht. Besonders aus der eigenen Partei hagelt es Kritik. Der Sozialflügel der CDU wirft Reiche vor, an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen vorbeizureden. Christian Bäumler, Vizechef der CDA, bezeichnet sie gar als „Fehlbesetzung“ im Kabinett.
Er verweist auf die hohe Teilzeitquote in Deutschland – viele Menschen arbeiten weniger Stunden nicht aus Bequemlichkeit, sondern wegen fehlender Kinderbetreuung, Pflegeverantwortung oder gesundheitlicher Einschränkungen. Zudem sei die durchschnittliche Jahresarbeitszeit nur bedingt aussagekräftig – sie sei das Ergebnis von strukturellen Arbeitszeitmodellen, nicht persönlicher Faulheit.
Wettbewerbsfähigkeit unter Druck
Reiche bleibt dennoch hart in ihrer Linie. In ihrer Argumentation geht es nicht nur um das Rentensystem, sondern auch um die volkswirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit.
Der Faktor Arbeit – bestehend aus Löhnen, Abgaben und Steuern – sei in Deutschland schlicht zu teuer. Die Produktivität werde durch immer kürzere Arbeitszeiten nicht kompensiert.
In ihrer Einschätzung schwingen die Sorgen der deutschen Industrie mit: hohe Energiepreise, Fachkräftemangel, schwächelnde Exportmärkte – und nun auch noch die Gefahr von US-Strafzöllen. „Wir müssen alles dafür tun, dass die EU und die USA zu einer Lösung finden“, sagt Reiche mit Blick auf drohende Handelskonflikte, die vor allem die Autoindustrie treffen würden.
Der Elefant im Raum: Klimaziele und Arbeitsmarkt
Neben all dem steht ein zweites Mammutprojekt im Raum: die grüne Transformation. Reiche betont, dass Deutschland an seinem Klimaziel 2045 festhält – also fünf Jahre früher als der EU-Durchschnitt. Doch auch hier mahnt sie Realismus an: „Das ist verdammt ambitioniert.“
Die Dekarbonisierung der Industrie, der Umbau der Infrastruktur und die Digitalisierung des Energiesektors – all das braucht Arbeitskräfte. Und genau da beißt sich die Katze in den Schwanz: Die einen gehen früher in Rente, die anderen arbeiten weniger – gleichzeitig fehlen überall Fachleute.
Reiches Forderung, die Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung anzupassen, ist in dieser Logik nicht nur Rentenpolitik, sondern Industriepolitik. Und möglicherweise der Versuch, den bevorstehenden Systemdruck noch rechtzeitig abzufedern.
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