Direkter Appell an die Bevölkerung
Der Ton aus Jerusalem wird schärfer. Nach den jüngsten israelischen Angriffen auf iranische Militäreinrichtungen und Nuklearanlagen nutzt Premierminister Benjamin Netanjahu die Bühne für eine neue Eskalationsstufe – und richtet sich dabei direkt an die iranische Bevölkerung. In einer Videobotschaft, untertitelt auf Persisch, ruft er das iranische Volk zum Widerstand auf.
Die Angriffe auf den Iran, so Netanjahu, richteten sich allein gegen die „atomare und ballistische Bedrohung des islamischen Regimes“. Für die Iraner selbst, so der Premier, eröffne sich eine historische Chance:
„Erhebt euch gegen dieses böse und mörderische Regime“, sagt Netanjahu und greift dabei die bekannte Parole der Protestbewegung auf: „Frau, Leben, Freiheit.“
Interne Konflikte und äußere Angriffe
Die Unzufriedenheit in der iranischen Bevölkerung ist real. Immer wieder kommt es zu Protesten: Arbeiter streiken, Rentner demonstrieren gegen ihre schwindenden Renten, die Wasserknappheit heizt im Sommer die Wut zusätzlich an. Und vor drei Jahren brachte die landesweite Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ Hunderttausende auf die Straßen, ausgelöst durch den Tod der jungen Mahsa Amini.
Doch trotz aller Unzufriedenheit sind die Iraner tief gespalten, was den Umgang mit den israelischen Angriffen angeht. Während Teile der Diaspora und einige ethnische Minderheiten wie Kurden und Balutschen den israelischen Kurs begrüßen, fürchtet die Mehrheit der Bevölkerung weitere Eskalation.
Die Angst vor einem Krieg und ausländischer Einflussnahme bremst den revolutionären Impuls vieler.

Schwere Verluste für das Regime – aber kein Umsturz in Sicht
Die israelischen Schläge haben das Regime empfindlich getroffen: Hochrangige Kommandeure der Revolutionsgarden, darunter sogar der Armeechef, wurden gezielt ausgeschaltet.
Berichten zufolge gelang es israelischen Agenten, das Atomprogramm zu infiltrieren. Öffentlichkeitswirksam veröffentlichte die israelische Armee Videomaterial aus der hochgesicherten Uran-Anreicherungsanlage Natanz.
Und dennoch: Experten bezweifeln, dass diese Schläge kurzfristig zu einem Regimewechsel führen. „Die Mittelklasse und die Arbeiterschicht sind unzufrieden, aber sie fürchten sich vor ausländischer Intervention“, sagt die Iran-Expertin Ezgi Uzun-Teker von der Yeditepe Universität in Istanbul.
Auch der Iran-Experte Simon Wolfgang Fuchs von der Hebrew University in Jerusalem sieht derzeit eher ein Zusammenrücken der Bevölkerung als eine revolutionäre Welle.
Exil-Opposition bleibt zersplittert
Unter den Exil-Iranern positionieren sich verschiedene Gruppen als Alternative zum Mullah-Regime. Eine zentrale Figur ist Reza Pahlavi, Sohn des gestürzten Schahs. Er ruft offen zum Sturz des Regimes auf und genießt insbesondere in den USA und Europa gewisse Sympathien.
Doch innerhalb des Irans ist sein Rückhalt überschaubar. „Dass Pahlavi über echte Autorität im Land verfügt, ist eine israelische Illusion“, urteilt Fuchs.
Auch die Volksmujaheddin bleiben politisch aktiv. In den 1980er Jahren führten sie blutige Anschläge gegen das Regime durch und arbeiten laut Medienberichten bis heute mit westlichen Geheimdiensten zusammen. Doch auch sie haben im Iran selbst kaum Unterstützung.
Reformer ohne Machtbasis
Die Reformkräfte im Iran konnten sich bislang nicht nachhaltig durchsetzen. Zwar existiert innerhalb des Systems eine Debattenkultur, doch namhafte Reformer stehen längst unter Hausarrest.
Selbst moderate Präsidenten wie Masud Pezekshian haben wenig Gestaltungsspielraum. Uzun-Teker beschreibt die Stimmung nüchtern:
„Das Volk ist desillusioniert. Die Reformer konnten in der Vergangenheit kaum echte Veränderungen durchsetzen.“
Die Revolutionswächter als Machtzentrum
Die entscheidende Hausmacht im Iran bleibt die mächtige Revolutionsgarde. Sie verfügt über eigene wirtschaftliche Strukturen, eigene Milizen und kontrolliert weite Teile des Sicherheitsapparats.
Trotz der jüngsten Verluste an der Spitze zeigt sich die Garde bislang kampfbereit. „Die Revolutionswächter werden alles daran setzen, das Regime zu stabilisieren“, sagt Fuchs. Ein Sturz des Regimes ohne ihre Mitwirkung erscheint derzeit kaum vorstellbar.
Militärdiktatur oder Bürgerkrieg als mögliche Szenarien
Die größte Gefahr für die Zukunft des Landes liegt derzeit weniger in einem raschen Regimewechsel als in einem möglichen Bürgerkrieg. Ein plötzlicher Sturz der Führung könnte eine chaotische Übergangsphase einleiten, in der sich keine einheitliche Opposition formieren kann.
Ethnische und politische Spannungen könnten schnell eskalieren. „Eine lange Übergangszeit mit großem Konfliktpotenzial ist wahrscheinlicher als eine stabile, neue Regierung“, warnt Uzun-Teker.
Langfristig könnte sich auch das System selbst transformieren. Denkbar wäre ein schleichender Übergang von der Theokratie zu einer offenen Militärherrschaft unter Kontrolle der Revolutionswächter – ohne den bisherigen religiösen Überbau, aber auch ohne echte demokratische Perspektive.
Netanjahus Wette auf den inneren Aufstand
Israels Premier setzt auf eine Destabilisierung von innen, doch die gesellschaftlichen Realitäten sprechen derzeit gegen einen schnellen Regimewechsel.
Netanjahus Appell an die Iraner mag international Schlagzeilen erzeugen, doch ob er tatsächlich das gewünschte Ergebnis auslöst, ist fraglich. Die iranische Innenpolitik bleibt hochkomplex, zersplittert und – trotz aller Krisen – bislang erstaunlich stabil.
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