08. August, 2025

Milliardendeal mit Beigeschmack: Warum Deutschland seine besten Ideen verliert

Der Verkauf des Düsseldorfer KI-Start-ups Cognigy an den US-Konzern Nice für 955 Millionen Dollar ist ein Meilenstein – und ein Mahnmal zugleich. Der Deal steht exemplarisch für ein strukturelles Problem in der deutschen Innovationslandschaft: gute Ideen, schwache Exits, keine Käufer.

Milliardendeal mit Beigeschmack: Warum Deutschland seine besten Ideen verliert
Das deutsche KI-Start-up erzielt mit 955 Mio. US-Dollar den größten europäischen KI-Exit aller Zeiten – gekauft von einem US-Konzern, nicht von einem deutschen. Die deutsche Industrie blieb zum elften Mal in Serie Zaungast.

Verkauft und verloren

Für 955 Millionen Dollar wechselt Cognigy den Besitzer – und mit ihm die Chance, KI-Kompetenz im eigenen Land zu halten. Während US-Konzerne strategisch einkaufen, schaut die deutsche Industrie weiter tatenlos zu.

Es hätte der große Coup für deutsche Konzerne werden können – stattdessen kauft ein US-Konzern die KI-Zukunft ein. Cognigy, Entwickler intelligenter Sprachassistenten, geht an den amerikanischen Softwareanbieter Nice.

955 Millionen Dollar, fast das 25-Fache des geschätzten Jahresumsatzes, soll das Start-up dem Käufer wert sein. Es ist die bislang größte KI-Übernahme Europas – und eine bittere Lektion für den Standort Deutschland.

Denn während Investoren und Gründer jubeln, fragt sich die Branche: Warum war kein deutscher Konzern bereit, für die strategisch so wichtige Technologie tief in die Tasche zu greifen? Die Antwort fällt ernüchternd aus – und offenbart ein altes Problem: Deutschlands Start-ups haben kein Exit-Problem, sie haben ein Käufer-Problem.

Innovation? Gern, aber bitte nicht kaufen

Rafael Laguna de la Vera, Chef der Bundesagentur für Sprunginnovationen, bringt es auf den Punkt:

„Die deutsche Industrie ‚kauft‘ zu wenig Innovation.“

Während US-Konzerne jährlich hunderte Start-ups übernehmen – viele davon aus Europa –, lassen sich vergleichbare Übernahmen durch deutsche Unternehmen an wenigen Fingern abzählen. Dass SAP 2021 das Berliner Prozesssoftware-Unternehmen Signavio für über eine Milliarde Dollar kaufte, bleibt die Ausnahme. Nicht die Regel.

Auch bei Cognigy war der potenzielle Käuferkreis theoretisch vorhanden. Die Deutsche Telekom? Die Deutsche Post? Beide verfügen über Millionen Kundenkontakte – und beide hätten von einer skalierbaren KI-Kompetenz für den Kundenservice erheblich profitieren können. Doch investiert wurde nicht.

Nice zahlt für mehr als Technik

Der US-Konzern Nice investiert nicht nur in KI, sondern in Marktposition. Cognigy hat neben seiner Software auch eine wachsende Kundenbasis – darunter Großunternehmen, die ihre Kundenkommunikation automatisieren wollen.

Für Nice ist der Kauf ein Doppelschlag: technologische Stärkung und Zugang zu europäischen Unternehmenskunden in einem.

Achim Berg, früher Bitkom-Präsident, erkennt darin eine strategische Weitsicht, die in Deutschland oft fehlt:

„Es mangelt weder an Kapital noch an Möglichkeiten – sondern am Willen.“

Ein Muster ohne Wertschöpfung

Mit rund 37 Millionen Dollar Umsatz 2024 und einem Wachstum von über 100 % im Jahr zuvor gehört Cognigy zu den wachstumsstärksten Tech-Unternehmen Deutschlands. Doch anstatt diese Dynamik ins eigene Ökosystem einzubinden, verlieren deutsche Unternehmen regelmäßig das Rennen um relevante Zukunftstechnologien.

Laut Bitkom gehen rund 4 von 5 Tech-Exits in Deutschland an ausländische Käufer. Viele Start-ups wachsen mit deutschen Steuergeldern – und enden in ausländischen Bilanzen. Eine echte Digitalstrategie sieht anders aus.

Laut Daten des High-Tech Gründerfonds gehen rund 80 % aller Start-up-Exits über 25 Millionen Euro an außereuropäische Käufer. Die Konsequenz: Know-how, Wertschöpfung und technologische Kontrolle wandern ab – und stärken ausgerechnet die Wettbewerber, mit denen deutsche Konzerne im globalen Markt konkurrieren.

Systemisches Wegschauen

Das Problem ist nicht neu – aber es wird mit jeder Übernahme drängender. Die deutschen Großunternehmen scheinen sich auf ihre alten Geschäftsmodelle zu verlassen. Digitale Kompetenz wird selten eingekauft, sondern wenn überhaupt intern aufgebaut. Das kann funktionieren – muss es aber nicht. Und wenn es nicht gelingt, geht die Zeit verloren, in der sich Märkte neu ordnen.

Cognigy ist dafür ein Paradebeispiel. Wer glaubt, KI-Agenten seien bloß ein besserer Chatbot, unterschätzt die Tragweite.

Die Software verknüpft sich mit internen IT-Systemen, führt automatisierte Gespräche auf verschiedenen Kanälen und ersetzt Routineaufgaben von Kundenbetreuern. Wer diese Technologie besitzt, kontrolliert einen zentralen Teil digitaler Kundeninteraktion – eine Schlüsselkompetenz in praktisch allen Branchen.

Eine Milliarde? Zu viel für Deutschland

In Deutschland jedoch scheitern solche Deals häufig an einem Faktor: der Preis. Das 25-Fache des Umsatzes – wie im Fall Cognigy – ist in hiesigen Chefetagen kaum durchzusetzen. „Solche Multiples schrecken viele deutsche Entscheider ab“, sagt Julian Riedlbauer von der M&A-Beratung Drake Star. Dabei sind sie im internationalen Vergleich längst üblich – gerade im KI-Bereich.

Das Dilemma: Während die Konkurrenz technologisch aufrüstet, halten deutsche Firmen an kaufmännischen Bewertungslogiken fest. Doch digitale Plattformmärkte folgen anderen Regeln – und belohnen Geschwindigkeit, nicht konservative Kalkulation.

Die stille Entkernung der Tech-Zukunft

Mit Cognigy geht nicht nur ein Start-up verloren, sondern ein Baustein für eine digitale Souveränität Europas. Wenn Unternehmen wie diese nicht Teil deutscher Wertschöpfungsketten werden, bleibt die deutsche Wirtschaft langfristig abhängig von Importen – nicht von Gütern, sondern von Innovation.

„Ohne systematische Beteiligung an Sprunginnovationen“, warnt Sprind-Direktor Laguna de la Vera, „wird Deutschland technologisch weiter zurückfallen – und seine Produkte werden international immer austauschbarer.“

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