Ein Kanzler, der unruhig wirkt
Friedrich Merz trat in Osnabrück nicht als Triumphator auf, sondern als Regierungschef, der um Glaubwürdigkeit ringt. Zwar listete er zu Beginn routiniert Erfolge auf – niedrigere Asylzahlen, steuerliche Anreize für Investitionen, eine stärkere Rolle in der EU. Doch schon im nächsten Moment zog er die Bremse:
„Ich bin mit dem, was wir bis jetzt geschafft haben, nicht zufrieden.“
Der Satz fiel nicht ins Leere. Im Saal der OsnabrückHalle wich der Applaus, bis dahin zuverlässig, einem kurzen Zögern. Merz sprach aus, was viele Christdemokraten denken: Die schwarz-rote Koalition hat im Inland noch nichts vorzuweisen, was über Ankündigungen hinausgeht.

Außenpolitisch souverän, innenpolitisch unter Druck
Als Europäer alter Schule fiel es Merz leicht, seine Rolle im internationalen Gefüge zu betonen. Deutschland als Antreiber in der EU, als verlässlicher Partner in der NATO – diese Passagen seiner Rede stießen auf breite Zustimmung.
Auch seine Entscheidung, Waffenlieferungen an Israel einzuschränken, begründet mit dem Völkerrecht, fand respektvolles, wenn auch verhaltenes Klatschen.
Doch innenpolitisch sieht die Lage anders aus. Wenn Merz über Rente, Gesundheit und Pflege sprach, wurde die Rede plötzlich kantig. Dann fiel der Satz, der die Debatte des Herbstes bestimmen dürfte:
„Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“
Sprengstoff für die Koalition
Dieser Satz stellt die SPD vor ein Dilemma. Finanzminister Lars Klingbeil wird ihn kaum unkommentiert lassen können. Für die Sozialdemokraten klingt er nach Kürzung, nach Sozialabbau. Für Merz ist er das Eingeständnis einer Realität, die sich aus Demografie, Kostenexplosion im Gesundheitssystem und immer höheren Transfers ergibt.

Die SPD muss nun entscheiden, ob sie die Debatte blockiert oder mitgeht. In beiden Fällen riskiert sie, an Profil zu verlieren: Entweder als Bremserin notwendiger Reformen – oder als Partei, die den Kern ihres Markenkerns preisgibt.
Erwartungsdruck aus der eigenen Partei
Auch in den Reihen der CDU ist Geduld nicht unendlich. Niedersachsens Parteichef Sebastian Lechner brachte es auf den Punkt: Nach der Sommerpause müsse die Regierung „klar, klug und entschieden“ liefern. Hinter den Kulissen gärt es ohnehin. Die missratene Wahl der Verfassungsrichter, Kommunikationspannen im Bundestag, ausstehende Steuerentscheidungen – das alles haftet Merz an, auch wenn er die Verantwortung gern anderen zuschiebt.
Der Satz vom nicht finanzierbaren Sozialstaat hat deshalb auch eine interne Funktion: Er soll den Ton angeben, die Richtung bestimmen. Weniger Verwalten, mehr Gestalten.

Ein riskanter Kurs
Merz hat in Osnabrück die Latte hochgelegt. Er will der Kanzler sein, der das Land aus der Illusion unbegrenzter Sozialstaatlichkeit herausholt. Doch er weiß, dass er damit auf einen Pulverfass sitzt. Die SPD wird Widerstand leisten, Teile seiner eigenen Partei ebenfalls.
Gelingt es ihm, die Debatte zu führen und Reformen einzuleiten, wird Osnabrück als Startpunkt in Erinnerung bleiben. Scheitert er, bleibt von der Rede nur ein Satz, der sich als politisches Eigentor erweisen könnte.