Ein Glas Brühe, ein Lied und ein bitterer Nachgeschmack: Während Sarah Connor im neuen Lidl-Werbespot zur Melodie der Nationalhymne von „Kaufkraft fürs Portemonnaie“ singt, tobt im Hintergrund ein Preiskrieg, der weit über Werbegags hinausreicht.
Die Botschaft ist klar: Lidl senkt die Preise – flächendeckend und aggressiv. Über 500 Produkte quer durchs Sortiment werden billiger, einzelne sogar um bis zu 35 Prozent. Doch was für viele nach einer willkommenen Entlastung klingt, ist in Wahrheit ein hochriskantes Spiel mit der Substanz des deutschen Lebensmittelmarktes.
Der wahre Preis der Preisführerschaft
Was als „gesellschaftlicher Auftrag“ verkauft wird, ist in Wahrheit der Versuch, die alte Hackordnung im Discount-Sektor zu kippen. Lidl will Aldi die Krone der Preisführerschaft entreißen.
Das bedeutet nicht weniger, als künftig den Takt für den gesamten deutschen Lebensmitteleinzelhandel vorzugeben. Wer am billigsten ist, bestimmt die Preisspirale – und damit auch, wer verliert.
Aldi reagierte binnen Stunden auf den Lidl-Vorstoß. Die Preisführerschaft sei „kein kurzfristiger Aktionsmodus, sondern ein Grundprinzip“, ließ das Unternehmen verlauten und kündigte über 1000 dauerhaft verbilligte Artikel an.
Auch andere Händler wie Edeka, Rewe, Penny, Netto oder Norma zogen mit. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel ist in den Preiskampf eingetreten – und alle spielen mit.
Verlierer auf dem Acker
Was in den Regalen günstiger wird, erzeugt Druck auf den Äckern und in den Ställen. „Die Preissenkungen kommen zur Unzeit“, sagt Hubertus Beringmeier, Präsident des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbands.
Die Betriebe seien längst am Limit. Tierwohl, Klimaschutz und Nachhaltigkeit ließen sich nicht zu Discountpreisen liefern – zumindest nicht ohne Kollateralschäden.
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Auch die Ernährungsindustrie ist alarmiert. Kim Cheng, Chefin der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), spricht offen von einer Illusion: Die angebliche Verbraucherentlastung sei in Wahrheit ein knallhartes Marketingmanöver.
„Nachhaltige Preisstabilität mit fairen Margen in der gesamten Lebensmittelkette ist Voraussetzung für Investitionen und Innovationen“, warnt Cheng.
Psychologie an der Kasse
Der Kampf um den Cent ist psychologisch aufgeladen. Wer im Supermarkt zu Butter für 1,59 Euro statt 2,29 Euro greift, fühlt sich entlastet. Doch die Rechnung geht tiefer. Der durchschnittliche Haushalt gibt rund 15 Prozent des Einkommens für Lebensmittel aus – ein historischer Tiefstand.

„Günstige Preise bei bestimmten Artikeln sollen preissensible Kunden anziehen“, sagt Marktforscher Robert Kecskes von YouGov. Doch sie kaufen dann oft mehr – und auch Produkte mit höherer Marge. Das nennt sich Mischkalkulation und ist alles andere als ein Wohlfahrtsprogramm.
Verdrängungswettbewerb mit Ansage
Im Kern geht es um Macht. Wer die Preisführerschaft übernimmt, wird zur Benchmark – für Verbraucher, Hersteller und die Konkurrenz. Die Märkte sind gesättigt, der Spielraum für Wachstum eng. Entsprechend rabiat verläuft der Verdrängungswettbewerb.
In Deutschland betreiben die Discounter über 16.000 Filialen – das ist fast die Hälfte des Einzelhandelsvolumens. Der Marktanteil lag 2023 bei 46,3 Prozent, Supermärkte folgten mit 42,2 Prozent. Es ist ein Markt der Giganten, der kaum noch Platz für Kleine lässt.
Einmal gesenkt, immer im Fokus
Ein Aspekt macht die Preissenkungen besonders brisant: Sie lassen sich nicht ohne Gesichtsverlust wieder zurücknehmen. Wer den Verbrauchern heute signalisiert, dass Preise dauerhaft sinken, kann morgen nicht einfach wieder draufschlagen.
Das hat auch Lidl verstanden. Deshalb der große Medienrummel, deshalb die Werbekampagne mit Hymne. Wer Preisführerschaft beansprucht, liefert künftig auch den Maßstab, an dem er selbst gemessen wird.
Verbraucher zwischen Rabatt und Verantwortung
Für viele Verbraucher sind sinkende Preise ein Segen. Doch sie machen auch blind für die systemischen Folgen. Jeder gesparte Euro an der Kasse bedeutet meist einen fehlenden Euro beim Erzeuger.
Die Wertschöpfungskette ist kein endlos dehnbares Gummiband. Wenn das Fundament zu bröckeln beginnt – sprich: Bauernhöfe schließen, Hersteller rationalisieren, Lieferketten abbrechen – wird irgendwann auch das Sortiment kleiner und die Versorgung unzuverlässiger.
Ein Preiskrieg mit gesellschaftlichem Risiko
Was derzeit als Schnäppchenfestival inszeniert wird, birgt das Potenzial zur strukturellen Krise. Denn die Agrar- und Ernährungswirtschaft ist nicht nur ein Industriezweig – sie ist Teil der kritischen Infrastruktur.
Wenn sie unter die Räder gerät, weil sich zwei Giganten einen Machtkampf liefern, steht mehr auf dem Spiel als nur ein Glas Brühe im Angebot. Dann geht es um Ernährungssicherheit, um regionale Wertschöpfung, um wirtschaftliche Resilienz.
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