Ein Gesetzentwurf mit Sprengkraft
Boris Pistorius lässt keinen Zweifel mehr: Deutschlands Sicherheitspolitik steht vor einem tiefgreifenden Umbruch. Der Verteidigungsminister will noch in diesem Sommer dem Kabinett einen Gesetzentwurf vorlegen, der einer schrittweisen Rückkehr zur Wehrpflicht den Weg ebnet.
Inmitten wachsender Spannungen mit Russland und neuen Verpflichtungen innerhalb der NATO markiert der Vorstoß eine sicherheitspolitische Wende – und stellt zugleich die eigene Koalition vor eine Zerreißprobe.
Zwei Stufen, ein Ziel
Der geplante Umbau der Wehrpflicht sieht ein sogenanntes Zwei-Stufen-Modell vor: Zunächst bleibt es beim freiwilligen Wehrdienst, wie im Koalitionsvertrag vereinbart.
Doch sobald klar wird, dass sich nicht genügend Rekruten freiwillig melden, könnte der Bundestag gezwungen sein, den nächsten Schritt zu gehen: die Wiedereinführung verpflichtender Dienstpflichten. Ein Automatismus wird vermieden – die Tür aber bleibt offen.
Im Hintergrund ist längst klar, worauf diese Konstruktion hinauslaufen könnte. Kaum ein Verteidigungsexperte glaubt ernsthaft, dass sich ausreichend viele Freiwillige finden lassen, um den gewaltigen Personalbedarf der Bundeswehr zu decken. Der Weg zur schrittweisen Reaktivierung der Wehrpflicht scheint damit vorgezeichnet.
Die NATO fordert: Deutschland soll liefern
Der Druck kommt auch von außen. NATO-Generalsekretär Mark Rutte erwartet von Deutschland künftig deutlich mehr militärisches Engagement. Nach den neuen Verteidigungsplänen der Allianz müsste die Bundeswehr in den kommenden Jahren 60.000 zusätzliche Soldaten aufstellen.

Und das ist nur das Minimum – je nachdem, wie sich die US-amerikanische Sicherheitsstrategie unter Donald Trump weiterentwickelt. Sollte Washington seine militärischen Prioritäten endgültig in den Pazifik verschieben, wären die europäischen Partner gefordert, größere Lücken zu schließen.
Schon heute ist die Bundeswehr bei weitem nicht in der Lage, die neuen Anforderungen zu erfüllen. Es mangelt an Material, Ausrüstung – und vor allem an Personal. Pistorius' Vorschlag erscheint vor diesem Hintergrund weniger als politischer Tabubruch, sondern als sicherheitspolitische Notwendigkeit.
Die Koalition am Scheideweg
Innerhalb der Ampelkoalition stößt Pistorius' Plan allerdings auf Widerstand. Besonders in Teilen der SPD wächst die Nervosität. Offene Sympathie für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht ist in der Partei Mangelware.
Während konservative Kräfte wie CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen auf rasches Handeln drängen, mahnen viele Sozialdemokraten zur Vorsicht.
Staatssekretär Nils Schmid und Fraktionsvize Siemtje Möller betonen unisono: Vorrang habe die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber. Man wolle den Freiwilligendienst stärken, statt rasch in verpflichtende Maßnahmen zu drängen.
Für den Verteidigungsminister wird es damit ein politischer Drahtseilakt: Einerseits zwingt ihn die Sicherheitslage zum Handeln, andererseits droht ihm in der eigenen Partei eine offene Konfrontation.
Ein innerparteilicher Kulturkampf
Spätestens auf dem SPD-Parteitag Ende Juni könnte sich der schwelende Konflikt entladen. Das bereits veröffentlichte „Manifest“ mehrerer prominenter SPD-Politiker, darunter Rolf Mützenich und Norbert Walter-Borjans, fordert eine Kehrtwende: weniger Aufrüstung, mehr Diplomatie mit Russland, ein Stopp der sicherheitspolitischen Eskalation.
Historiker wie Jan Claas Behrends werfen den Initiatoren hingegen vor, sich von der sicherheitspolitischen Realität abgekoppelt zu haben: „Das Manifest ist ein sicherheitspolitischer Offenbarungseid.“
Die Debatte um Pistorius’ Wehrpflicht-Plan wird damit zur Nagelprobe für die sicherheitspolitische Positionierung der gesamten SPD – und letztlich auch für die Stabilität der Ampelregierung.
Deutschlands Nachbarn machen es längst vor
International betrachtet ist der Vorstoß alles andere als revolutionär. Dänemark hat die Wehrpflicht zuletzt sogar auf Frauen ausgeweitet.
Schweden führt sie seit 2017 wieder ein. Finnland, Norwegen, Litauen und Estland haben nie daran gerüttelt. In vielen europäischen Ländern gilt die allgemeine Wehrpflicht wieder als tragende Säule der Verteidigungsfähigkeit.
Dass Deutschland inmitten einer neuen sicherheitspolitischen Epoche ohne funktionierende Reserve bleibt, gilt unter Experten zunehmend als unverantwortliches Risiko.
Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich die Einschätzung, wie viel militärische Abschreckung notwendig ist, grundsätzlich verschoben.
Pistorius setzt auf Realismus statt Ideologie
Pistorius’ Konzept versucht, den Spagat zwischen innenpolitischen Widerständen und außenpolitischen Verpflichtungen zu schaffen. Ein sofortiger Zwangsdienst würde die SPD zerreißen.
Ein reines Freiwilligenmodell würde am Personalmangel scheitern. Der vorgeschlagene Mechanismus, die Entscheidung über verpflichtende Elemente an konkrete Personalzahlen zu knüpfen, erlaubt politischen Bewegungsspielraum – und stellt zugleich sicher, dass sich die Bundeswehr nicht länger durch Schönwetterprognosen lahmlegen lässt.
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