Herbert Kickl surft auf der Welle des Unbehagens
Österreich steht womöglich vor einer tektonischen politischen Verschiebung. Herbert Kickl, langjähriger Hardliner und FPÖ-Chef, führt mit 30 Prozent in der Direktwahlfrage zum Kanzleramt – und lässt die Mitbewerber weit hinter sich.
Das hat eine aktuelle Umfrage des Market-Instituts ergeben. Nicht nur liegt seine FPÖ in der Kanzlerfrage auf Platz eins – auch in der Parteipräferenz ist sie mit 35 Prozent mit Abstand stärkste Kraft.
Was für manche nach einem Warnsignal klingt, ist für andere bereits ein Menetekel: Der Mann, der noch vor wenigen Jahren mit Verschwörungstheorien, Anti-Migrationsrhetorik und Pandemie-Leugnung Schlagzeilen machte, wird heute von einem Drittel der Bevölkerung für kanzlertauglich gehalten.
Stocker, Babler, Meinl-Reisinger: Die Mitte zerfällt
Die politische Konkurrenz wirkt blass. Der amtierende Bundeskanzler Christian Stocker von der ÖVP kommt gerade einmal auf 13 Prozent Zustimmung. SPÖ-Vorsitzender Andreas Babler und Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger erreichen je nur 10 Prozent. Auch die neue grüne Parteichefin Leonore Gewessler bleibt mit 7 Prozent unter der Wahrnehmungsschwelle.
Während die etablierten Parteien sich um Differenzierung und Kompromiss ringen, punktet Kickl mit klarer Sprache und einem Wir-Gefühl, das sich gegen alle richtet, die nicht zur eigenen Blase gehören. Er profitiert von einem Phänomen, das man auch jenseits der Alpen kennt: Polarisierung ist in.
Pessimismus als politisches Kapital
Besonders auffällig an den Umfragewerten ist der Zusammenhang zwischen Zukunftspessimismus und FPÖ-Zustimmung. Zwar sagen 88 Prozent der Österreicher, dass sie ein „gutes Leben“ führen – doch nur 22 Prozent blicken optimistisch nach vorn. Ganze 46 Prozent sehen düstere Zeiten auf das Land zukommen.

Bei FPÖ-Wählern sind es sogar 64 Prozent, die der Zukunft mit Sorge begegnen. Die FPÖ scheint nicht trotz, sondern wegen dieser Grundstimmung zu profitieren. Wer glaubt, dass alles schlechter wird, sucht keinen Gestalter – sondern einen Rächer.
Wer wählt Kickl – und warum?
Die Erzählung vom klassischen, männlichen FPÖ-Stammtischwähler greift zu kurz. Das Kickl-Lager hat sich verändert. Frauen und Männer sind heute nahezu gleich stark vertreten. Die stärkste Zustimmung kommt von Menschen über 30 – besonders in ländlichen Gemeinden.
Es ist eine Wählerschaft, die sich durch Globalisierung, Migration, Klimapolitik und „Wokeness“ zunehmend entfremdet fühlt – und die politische Repräsentation in einer Person sieht, die all das offen ablehnt. Kickl inszeniert sich als Gegenmodell zum urbanen Establishment – und damit als Projektionsfläche für Wut und Frustration.
Was bedeutet das für Europa – und für Deutschland?
Dass eine Rechtsaußenpartei in einem EU-Staat erneut auf das Kanzleramt zusteuert, ist kein regionales Detail. Mit Meloni in Italien, Le Pen in Frankreich und der AfD auf Höhenflug in Deutschland entsteht ein neues, national-konservatives Machtzentrum in Europa.
Ein Bundeskanzler Kickl würde Europa verändern – nicht abrupt, aber in seiner Tonlage. Die FPÖ vertritt einen EU-skeptischen, migrationsfeindlichen und russlandfreundlichen Kurs, der Wien zu einem politischen Unruheherd innerhalb der Union machen könnte. Und in Berlin dürfte man ganz genau hinschauen, wie aus der Stimmung am Stammtisch plötzlich Regierungspolitik wird.
Die Normalisierung des Extremen
Kickls Aufstieg ist kein Unfall. Er ist das Ergebnis jahrelanger Verschiebungen im politischen Diskurs. Was früher radikal galt, ist heute sagbar – und wählbar. Die FPÖ hat gelernt, gesellschaftliche Verunsicherung zu kanalisieren und in Zustimmung zu verwandeln.
Der Tabubruch ist längst kein Schock mehr. Er ist kalkuliertes Geschäft. Wer das Phänomen unterschätzt, macht den gleichen Fehler wie viele andere zuvor: zu glauben, dass Populismus sich von selbst erledigt. Er tut es nicht.
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