01. Juli, 2025

Health

Kante zeigen – oder untergehen? Wie junge Männer ihr Kinn zum Symbol ihrer Identität machen

Sie trainieren, sie kaufen, sie lassen spritzen – warum sich das männliche Selbstbild immer stärker auf ein einziges Körperteil fokussiert. Eine Spurensuche zwischen Instagram, Chirurgie und Unsicherheit.

Kante zeigen – oder untergehen? Wie junge Männer ihr Kinn zum Symbol ihrer Identität machen
Die „ideale“ Jawline wurde 2016 im Fachjournal Cranio-Maxillofacial Surgery exakt definiert – eine geometrisierte Vorstellung von Männlichkeit, die inzwischen Millionen Männer weltweit beeinflusst.

Die Geschichte beginnt in einem Klassenzimmer irgendwo in Berlin. Es ist 13 Uhr, Pause. Ein Junge filmt sich mit dem Smartphone. Er hält den Kopf schräg, schiebt den Unterkiefer nach vorn, macht ein Selfie – dreiviertel Profil.

Neben ihm: drei Mitschüler. Einer kaut konzentriert auf einem Stück zähen Gummis, einer murmelt was von "Mewing". Ein Dritter zeigt stolz ein kleines, schwarzes Silikon-Gadget: "Jawzrsize, Bruder. 60 Kilo Widerstand."

Kinn oder kein Gewinn

"Ich habe irgendwann gemerkt, dass mein Gesicht einfach so 'weich' aussieht – keine Struktur, kein Profil", erzählt Timur (17). Er ist einer von vielen, die derzeit versuchen, ihre Kieferpartie zu modellieren.

Nicht mit Bart oder Frisur – sondern durch gezieltes Training, spezielle Geräte und zur Not auch durch einen Besuch beim Schönheitschirurgen. "Ich hatte keine Lust mehr, auf Fotos wie ein Kind auszusehen. Und bei den Mädels kam es auch nicht gut an."

Was als beiläufiger TikTok-Trend begann, hat sich längst verselbständigt. "Jawline Workouts" sind keine Seltenheit mehr – sie sind Routine. Ob Kaugummis mit Extrawiderstand, YouTube-Tutorials zur Zungenpositionierung oder Apps, die das Kinnwinkel-Profil simulieren: die Generation Z entdeckt das Gesicht als Gym.

Die Renaissance der Jawline folgt einem bekannten Muster: Wie in Superheldencomics und Propagandaplakaten steht das Kinn für Härte, Kontrolle und Führung – in Zeiten kollektiver Verunsicherung kein Zufall.

Vom Selfie zum Skalpell

Zwar sprechen Influencer vom natürlichen Weg – aber viele nehmen den beschleunigten Umweg: via Hyaluron, Skalpell oder Fettabsaugung.

"Seit den Corona-Lockdowns und dem Boom von Videokonferenzen beobachten wir ein stark wachsendes Interesse an Jawline-Behandlungen", sagt Dr. Martin Wolf, Facharzt für ästhetische Medizin in München. "Vor allem junge Männer wollen klare Gesichtskonturen – ein markanter Kiefer steht für Entschlossenheit, Dominanz, Männlichkeit."

Früher waren es Bond-Bösewichte, heute ist es ein Algorithmus: Wer durch TikTok oder Tinder scrollt, merkt schnell, dass markante Kieferlinien zu einem visuellen Maßstab geworden sind. Und: zu einer Eintrittskarte in eine Welt, in der Attraktivität, Erfolg und Selbstbewusstsein zunehmend über Äußerlichkeiten definiert werden.

Die neuen Normen: 130 Grad und kein Millimeter drunter

Schon 2016 beschrieb das "Journal of Cranio-Maxillofacial Surgery" die idealtypische männliche Jawline: 130 Grad im Profil, klare Linie vom Ohrläppchen zum Kinn, Breite gleich Gesichtsbreite.

Was wie ein architektonisches Detail klingt, ist für viele junge Männer zur Bauanleitung geworden. In Foren wie "Looksmaxxing" oder "Red Pill" zirkulieren genaue Anleitungen: Wie man misst. Was man braucht. Wo man nachbessern kann.

Sigma Male: Keine Gefühle, aber 130 Grad Kinnwinkel

Der Kinn-Kult ist dabei oft Teil eines größeren Narrativs: jenes vom sogenannten "Sigma Male". Ein Männerbild, das Stärke über Isolation, Kontrolle über Emotionen und Status über Verbindung stellt. Sein äußeres Erkennungsmerkmal: das kantige Gesicht. Die Videoclips dazu wirken wie digitale Riten – Musik, Monolog, Close-up – eine Mischung aus Motivationsvideo, Selbstverachtung und Anleitung zur Selbstvermessung.

Von der Ironie zur Ideologie

Was auf den ersten Blick komisch wirkt – Kinntraining als ernst gemeinte Disziplin – offenbart auf den zweiten Blick einen tiefen Wunsch: gesehen zu werden. "Jeder will dazugehören, jeder will Bedeutung", sagt Soziologin Prof. Mira Schreiber von der Universität Bielefeld.

"Wenn sich gesellschaftliche Rollenbilder auflösen, werden Äußerlichkeiten zu Ersatzsymbolen. Das Kinn steht dabei für das, was Männern heute oft fehlt: Eindeutigkeit."

Timur hat sich inzwischen für eine Injektionsbehandlung entschieden. 1.200 Euro. Zwei Sitzungen. "Ich sehe mich jetzt endlich so, wie ich sein will. Klarer. Markanter. Vielleicht sogar ein bisschen mehr ich selbst."

Und was bleibt?

Vielleicht ist genau das die stille Tragik hinter der kantigen Euphorie: Dass ein Winkel im Gesicht ein Versprechen einlösen soll, das viel tiefer sitzt. Der Wunsch nach Klarheit. Nach Identität. Nach einem Platz in einer Welt, die sich ständig neu formt.

Das könnte Sie auch interessieren:

Xiaomi rollt über den E-Auto-Markt – BYD & Co. unter Druck
289.000 Vorbestellungen in Minuten: Mit dem neuen YU7 setzt Xiaomi ein Ausrufezeichen – und die Konkurrenz in China gerät ins Wanken.