Verpasste Rückzahlungen: Rund 60 Prozent der Arbeitnehmer ohne Nebeneinkünfte geben keine Erklärung ab und verlieren so im Schnitt 119 Euro pro Jahr.
Finanzen
Finanzamt Kassel testet radikalen Steuer-Service
In Hessen läuft ein Pilotprojekt, das die Steuererklärung auf den Kopf stellen könnte. Statt Mahnschreiben verschickt das Finanzamt Kassel fertige Steuerbescheide – und zwar ohne, dass die Betroffenen je ein Formular in ELSTER geöffnet haben.
Fertiger Bescheid statt leerer Formulare
Wer in Kassel bis Ende Juli seine Einkommensteuererklärung 2024 nicht abgegeben hat, bekommt in diesen Wochen einen kompletten Vorschlag vom Finanzamt. Darin steht, was an Steuer fällig ist – berechnet auf Basis der bereits vorliegenden Daten.
Passt alles, müssen die Empfänger nichts tun. Nach vier Wochen wird der Bescheid automatisch erlassen. Erstattungen kommen wie gewohnt aufs Konto, Nachzahlungen werden fällig.
Nur einfache Fälle – vorerst
Zum Start werden rund 6000 Arbeitnehmer ins Projekt aufgenommen. Es sind Fälle, bei denen die Finanzbeamten ohnehin fast alle Informationen haben – zum Beispiel, weil mehrere Arbeitgeber gemeldet sind oder Kurzarbeitergeld floss.
„Das kann das Verhältnis zwischen Bürgern und Finanzamt grundlegend verändern“, sagt Hessens Finanzminister Alexander Lorz (CDU).
Die Verwaltung könne sich so auf komplizierte Fälle konzentrieren, während der Großteil automatisiert laufe.
Europa ist weiter
In Österreich gibt es die automatische Veranlagung seit 2017. Wer bis Juni keine Erklärung abgibt, bekommt automatisch seinen Bescheid – solange nur Lohnsteuer anfällt.
In Estland dauert die Abgabe oft nur wenige Minuten, weil die Daten zentral vorliegen. Deutschland hingegen zwingt Eltern noch immer dazu, Kindergeld und Familienkasse händisch in die „Anlage Kind“ einzutragen.
Bürokratieabbau auf Probe: Statt Mahnung gibt es erstmals einen fertigen Steuerbescheid – vier Wochen Zeit bleiben für Einwände.
Bürokratieabbau als Hauptziel
Die Finanzverwaltung will mehr Pauschalen nutzen, Nachweispflichten senken und den Datenaustausch zwischen Behörden verbessern. Oberfinanzpräsidentin Konstanze Bepperling spricht von einer „spürbaren Entlastung“ – nicht nur für die Bürger, sondern auch für die Ämter selbst.
Fachkräftemangel treibt die Reform
Bis 2030 könnten laut Deutscher Steuergewerkschaft 45.000 Mitarbeiter in den Finanzämtern fehlen. Vorsitzender Florian Köbler sieht in der automatischen Festsetzung nur einen ersten Schritt.
Seine Vision: Steuerabzüge sollen bereits beim Lohn berechnet werden – Versicherungsbeiträge, Kinderbetreuungskosten und andere Posten würden in Echtzeit erfasst. Die Pflicht zur elektronischen Rechnung könnte dafür die Basis schaffen.
Viele lassen Geld liegen
Laut einer Studie der LMU München verzichten 60 Prozent der Arbeitnehmer ohne Nebeneinkünfte auf die Steuererklärung – und damit im Schnitt auf 119 Euro Erstattung. Oft aus Bequemlichkeit, manchmal aus Unkenntnis. Mit der Kasseler Methode würde dieses Geld automatisch zurückfließen.
Signal für die Steuer von morgen
Das Projekt ist klein, aber brisant. Wenn es funktioniert, könnte die jährliche Zettelwirtschaft für Millionen von Arbeitnehmern bald Geschichte sein. Ob die Bürger das als Erleichterung oder als zu viel Einmischung empfinden, wird der Test zeigen – doch das Steueramt hat den ersten Zug gemacht.