Die Automobilindustrie steht vor einem ihrer radikalsten Denkmodelle seit Einführung des Fließbands. Immer mehr Branchenführer ziehen ernsthaft in Betracht, sich dauerhaft von eigenen Werken zu verabschieden.
Was bislang nur als Modell für Tech-Konzerne wie Apple oder Tesla galt, rückt plötzlich auch für Volkswagen, BMW & Co. auf die strategische Agenda.
Kosten runter, Effizienz rauf – der Druck wächst
Hinter dem Tabubruch steckt vor allem eines: wirtschaftlicher Zwang. Die EBIT-Marge der Branche fiel 2024 laut dem Center of Automotive Management von vormals acht auf nur noch 6,3 Prozent.
Studienautor Stefan Bratzel warnt längst vor einem „darwinistischen Ausleseprozess“, der weniger effiziente Player schon bald vom Markt fegen könnte.
Die Beratungsfirma Bain & Company hat für eine aktuelle Analyse 300 Führungskräfte großer europäischer und nordamerikanischer Autohersteller befragt.
Das Ergebnis ist ein Branchenbild am Wendepunkt: 80 Prozent der Unternehmen halten eine komplette Produktionsauslagerung für denkbar, bei europäischen Herstellern sind es sogar 94 Prozent.
Apple lässt grüßen
Das Vorbild liefern Konzerne aus der Elektronik: Apple designt in Kalifornien, fertigt aber bei Partnern wie Foxconn in Asien. Was dort längst Alltag ist, schien für Autobauer lange undenkbar.
Zwar existieren Auftragsfertiger wie Magna Steyr in Österreich, doch bislang vor allem für Nischenmodelle. Die Vision einer globalen Serienfertigung komplett ohne eigene Werke blieb bislang Zukunftsmusik.
Die Verlockung der Digitalisierung
Doch die Digitalisierung ändert die Spielregeln. Automatisierung, Künstliche Intelligenz und Robotik bieten Effizienzpotenziale, die früher unerreichbar schienen. Laut Bain-Partner Eric Zayer steht der Industrie eine Chance offen, „wie sie sich für jede Generation nur einmal ergibt.“

Schon heute rechnen viele Hersteller mit Einsparungen von jeweils rund elf Prozent bei Verwaltungs- und Produktionspersonal. Entwicklungszyklen könnten sich durch den Einsatz KI-gesteuerter Simulationssysteme um mehr als 40 Prozent verkürzen.
Der große Widerspruch: Outsourcing vs. Insourcing
Gleichzeitig erleben wir jedoch einen gegenläufigen Trend: Viele Hersteller holen Schlüsseltechnologien wieder zurück ins eigene Haus – vom Software-Stack bis zur Batteriefertigung. Gerade deutsche Hersteller investieren massiv in eigene Plattformen für E-Mobilität, autonomes Fahren und Energiemanagement.
Der renommierte Autoexperte Bratzel bleibt daher skeptisch:
„Nur noch ‘Designed by Mercedes’ ohne eigene Fertigung? Das wäre ein dramatischer Bruch mit dem bisherigen Geschäftsmodell.“
Im Gegenteil: Know-how in-house aufzubauen, gilt vielen als Voraussetzung, um gegen Tech-Giganten wie Tesla, Google oder Apple überhaupt noch bestehen zu können.
Der Aufstieg der Maschinen
Wo Outsourcing für viele noch ein Gedankenexperiment bleibt, nimmt die nächste Automatisierungsstufe bereits Fahrt auf: humanoide Roboter. Zwei Drittel der von Bain Befragten erwarten bis 2035 Fabriken, die fast vollständig von Robotern betrieben werden – ohne Schichtsystem, ohne Pausen, rund um die Uhr.
Tesla-Chef Elon Musk peilt gar eine Jahresproduktion von einer Million Optimus-Robotern an, die ab 2030 sowohl Haushalte als auch Fabriken bevölkern sollen. Bratzel warnt jedoch vor überzogenen Erwartungen:
„Vollautomatisierung wird nicht von heute auf morgen kommen. Doch dass Roboter in den 2030er-Jahren eine deutlich größere Rolle spielen, ist wahrscheinlich.“
Ein Spiel mit hohem Risiko
Das fabriklose Autohaus könnte Effizienzgewinne bringen – birgt aber auch gewaltige Abhängigkeiten. Wer Fertigung und damit zentrale Teile der Wertschöpfung aus der Hand gibt, riskiert die Kontrolle über Qualität, Flexibilität und Innovationsgeschwindigkeit.
Derzeit bleibt offen, ob Europas Autobauer den radikalen Schritt tatsächlich wagen. Die Versuchung ist groß – doch der Preis könnte hoch sein.
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