Der Beschluss fiel nach einer Nacht voller Blockaden, Warnungen und juristischer Vorbehalte: Die Europäische Union wird der Ukraine in den kommenden zwei Jahren bis zu 90 Milliarden Euro bereitstellen – nicht aus eingefrorenem russischem Staatsvermögen, sondern über neue gemeinsame Schulden. Formal zahlt Europa, faktisch soll am Ende Russland haften.
Der Gipfel markiert eine strategische Verschiebung. Nicht mehr die direkte Verwertung russischer Zentralbankgelder steht im Zentrum, sondern ein Kreditkonstrukt auf EU-Ebene, abgesichert über den Gemeinschaftshaushalt. Politisch ist das ein Kompromiss, finanziell ein Präzedenzfall.
Die EU entscheidet sich für Schulden statt Konfrontation
Die Grundidee war lange klar: In der EU eingefrorene russische Staatsguthaben von rund 210 Milliarden Euro sollten zur Finanzierung der Ukraine genutzt werden. Vor allem Deutschland drängte darauf, Belgien verwaltet den Großteil dieser Mittel über den Finanzdienstleister Euroclear. Doch genau dort lag das Problem.
Mehrere Mitgliedstaaten warnten vor rechtlichen Risiken, möglichen Klagen Russlands und Vergeltungsmaßnahmen gegen europäische Unternehmen. Frankreich und Italien verweigerten am Ende die Zustimmung zu einem Schutzmechanismus, der mögliche Folgeschäden gemeinschaftlich abgesichert hätte. Belgien wiederum wollte ohne solche Garantien nicht vorpreschen.
Das Ergebnis: Der direkte Zugriff auf russisches Staatsvermögen wurde fallengelassen. Stattdessen nimmt die EU nun selbst Geld am Kapitalmarkt auf – zu günstigen Konditionen, abgesichert über den EU-Haushalt. Ein Modell, das an den Wiederaufbaufonds nach der Corona-Krise erinnert, politisch aber deutlich sensibler ist.
Die Konstruktion verlagert das Risiko auf Zeit
Offiziell handelt es sich um einen zinslosen Kredit an die Ukraine. Rückzahlungspflicht besteht nur, wenn Russland später Reparationszahlungen leistet. Bleiben diese aus, sollen die eingefrorenen russischen Vermögenswerte als letzte Sicherheit dienen.
Die EU geht damit „ins Obligo“, wie Bundeskanzler Friedrich Merz es formulierte. Die nationalen Haushalte sollen nicht belastet werden, die Union selbst am Ende ebenfalls nicht. Das Risiko wird in die Zukunft verschoben – in der Hoffnung, dass ein politischer oder juristischer Zugriff auf russisches Vermögen irgendwann möglich wird.
Finanzpolitisch ist das ein Balanceakt. Denn solange die russischen Gelder unangetastet bleiben, haftet zunächst der EU-Haushalt. Die Konstruktion lebt von der Annahme, dass eingefrorene Vermögenswerte dauerhaft blockiert bleiben und irgendwann verwertbar sind.
Verstärkte Zusammenarbeit umgeht den Konsenszwang
Bemerkenswert ist der institutionelle Weg. Die Einigung wurde nicht im Kreis aller 27 Mitgliedstaaten erzielt, sondern über das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit. 24 Länder machen mit, Ungarn, die Slowakei und Tschechien nicht.
Das senkt die politische Hürde, erhöht aber die Fragmentierung. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán sprach offen aus, was andere nur hinter vorgehaltener Hand sagen: Das Geld sei verloren, entscheidend sei für ihn nur, dass sein Land nicht hafte.
Für die EU ist dieser Schritt dennoch folgerichtig. Der Konsenszwang hatte sich in der Russland-Frage zuletzt mehrfach als Bremsklotz erwiesen. Nun setzt Brüssel auf Handlungsfähigkeit – auch um den Preis institutioneller Risse.

Russland bleibt wirtschaftlich unter Druck
Trotz des Verzichts auf die direkte Nutzung russischer Gelder bleibt der finanzielle Druck bestehen. Die Vermögenswerte bleiben eingefroren, eine Freigabe ist politisch ausgeschlossen. De facto dienen sie als Geiselmasse in einem langfristigen Machtspiel.
Der Kanzler spricht von einer vertauschten Reihenfolge: Erst Schulden, später russisches Geld. Die Botschaft an Moskau ist eindeutig – auch wenn sie juristisch weich verpackt ist. Sollte Russland keine Entschädigung leisten, will sich die EU das Recht vorbehalten, die Vermögenswerte zur Kreditrückzahlung heranzuziehen.
Das ist kein formaler Enteignungsbeschluss, aber eine klare Drohkulisse. Für Russland bedeutet das: Die Blockade der Gelder wird zur Dauereinrichtung, mit potenziell wachsendem finanziellen Schaden.
Der Preis ist eine weitere Vergemeinschaftung von Schulden
Für die EU selbst ist der Beschluss mehr als Ukraine-Hilfe. Er ist ein weiterer Schritt hin zu gemeinsamer Verschuldung als politischem Instrument. Nach Corona, Energiekrise und Verteidigungsausgaben folgt nun der Krieg in der Ukraine.
Kritiker warnen vor einer schleichenden Normalisierung. Befürworter verweisen auf die außergewöhnliche Lage und die geopolitische Notwendigkeit. Klar ist: Die Schwelle, gemeinsame Schulden aufzunehmen, sinkt weiter.
Dass die EU dafür den eigenen Haushalt als Sicherheit nutzt, zeigt, wie weit sich das Selbstverständnis verschoben hat. Aus einer Haushaltsunion auf Zeit wird Stück für Stück ein dauerhaftes Finanzvehikel für politische Großlagen.
Am Ende dieses Gipfels steht kein Zugriff auf russische Milliarden – aber ein Beschluss, der Europas finanzpolitische Architektur weiter verändert. Russland zahlt noch nicht. Aber die Rechnung liegt auf dem Tisch.
