Die Europäische Union steht möglicherweise vor einem entscheidenden Wendepunkt in der Reform ihrer Zollbestimmungen, die weitreichende Konsequenzen für den innergemeinschaftlichen Handel und den internationalen Warenverkehr haben könnte. Im Zentrum der aktuellen Diskussionen in Brüssel steht die mögliche Aufhebung der niedrigen Zollfreigrenzen für preisgünstige Waren. Ein wesentlicher Vorschlag der Europäischen Kommission sieht vor, ab 2028 auch für Waren unterhalb eines Warenwerts von 150 Euro Zollgebühren zu erheben. Diese Maßnahme soll dazu beitragen, die Wettbewerbsgleichheit zu fördern und gezielt gegen Betrug beim Warenimport vorzugehen.
Bundesfinanzminister Lars Klingbeil äußerte sich positiv zu diesen Veränderungen und betonte, dass die Neuerungen sowohl als Schutzmaßnahme gegen minderwertige Importe, als auch als Unterstützung für die heimischen Märkte angesehen werden können. Bislang konnten Händler Waren mit einem Wert unter 150 Euro zollfrei in die EU importieren, was häufig zu Missbrauch geführt hat. Insbesondere wurden Waren oftmals mit einem zu niedrigen Wert deklariert, um von der Zollfreiheit unrechtmäßig zu profitieren. Schätzungen der EU-Kommission zufolge werden etwa 65 Prozent der Importgüter wissentlich unterbewertet, was erhebliche Nachteile für kleine und mittlere Unternehmen innerhalb der Union mit sich bringt.
Darüber hinaus hat die Aufteilung von Großbestellungen in kleinere Sendungen, um die Zollregelungen zu umgehen, zu Wettbewerbsverzerrungen zulasten europäischer Unternehmen geführt und die Menge an Verpackungsmüll, die entsorgt werden muss, erheblich erhöht. Der Boom des Online-Handels hat zudem die Anzahl der kleinen Importpakete exponentiell steigen lassen. Allein im Jahr 2024 wurden täglich etwa zwölf Millionen solcher Pakete in der EU abgefertigt, wobei große Online-Plattformen wie Amazon, Temu, AliExpress und Shein besonders stark betroffen sind.
Der deutsche Markt ist hiervon nicht ausgenommen: täglich werden durchschnittlich etwa 400.000 Pakete von Plattformen wie Shein und Temu an deutsche Kunden versendet, was zu Umsätzen im Milliardenbereich führt. Ramona Pop, Vertreterin des Verbraucherzentrale Bundesverbands, bezeichnet die Abschaffung der Zollfreigrenze als potenziellen ersten Schritt zur Eindämmung der Paketflut und fordert gleichzeitig eine stärkere Verantwortung der Marktplätze für Produktsicherheit. Mittelstandsvertreter wie Günter Althaus befürworten die Gleichbehandlung von in- und ausländischen Händlern und plädieren für verbesserte Zollkontrollen.
Auch Amazon unterstützt öffentlich die Stärkung der Zollüberwachung. Zudem wird die Einführung einer Pauschalabgabe von bis zu zwei Euro pro Sendung diskutiert, um dem wachsenden Paketaufkommen Herr zu werden. Die Auswirkungen auf die großen Schnäppchenportale wie Temu und Shein bleiben abzuwarten, insbesondere da Kritiker weiterhin Fragen zur Produktqualität und fairen Wettbewerbspraktiken auf diesen Plattformen aufwerfen. In Frankreich steht Shein besonders unter Beobachtung, nachdem rechtlich fragwürdige Artikel in ihrem Sortiment festgestellt wurden. Die französische Regierung hat daraufhin verstärkte Kontrollen am Pariser Flughafen implementiert, während Shein betont, eng mit den Behörden zusammenzuarbeiten, um die Einhaltung der Bestimmungen sicherzustellen.