Der Onlinehandel steht vor einer potenziellen Zäsur. Mit dem Aufkommen sogenannter KI-Agenten, die Produkte empfehlen, Warenkörbe befüllen und perspektivisch sogar selbstständig einkaufen könnten, rückt ein neues Buzzword in den Fokus: Agentic Commerce. Gemeint ist damit der Einsatz autonomer oder teilautonomer KI-Systeme entlang der gesamten Customer Journey – von der Produktsuche bis zum Bezahlvorgang.
Was hinter Agentic Commerce steckt
Im Kern geht es darum, dass KI nicht mehr nur unterstützt, sondern handelt. Erste Ansätze sind bereits Realität: Chatbots beraten Kunden, schlagen Produkte vor oder beantworten Servicefragen. Neu ist jedoch die Tiefe der Integration. Kooperationen wie jene zwischen OpenAI und Instacart ermöglichen es Nutzern in den USA, direkt innerhalb von ChatGPT Lebensmittel auszuwählen und zu bestellen – ohne den Dienst zu verlassen.
Auch der Einzelhandel experimentiert. Walmart hatte bereits zuvor ähnliche Funktionen vorgestellt und sprach von „agentic commerce in action“. Der Einkauf wird damit dialogbasiert, personalisiert und schneller – zumindest für standardisierte Produkte.
Vier Stufen der KI im E-Commerce
Beratungen wie McKinsey unterscheiden mehrere Entwicklungsstufen:
- KI als Berater – Chatbots geben Empfehlungen (bereits weit verbreitet).
- KI als Vorbereiter – die KI stellt Warenkörbe zusammen, der Mensch entscheidet.
- KI mit Kaufmandat – unter klaren Regeln darf die KI selbst bestellen.
- KI als Steward – vollständig autonomes Einkaufen auf Basis von Gewohnheiten.
Aktuell bewegt sich der Markt zwischen Stufe eins und zwei. Die höheren Stufen gelten noch als Zukunftsmusik – vor allem wegen Vertrauensfragen und regulatorischer Unsicherheiten.
Chancen und Risiken für Händler
Für Händler und Marken eröffnen sich neue Reichweiten. Wer in KI-Antworten auftaucht, kann profitieren – insbesondere kleinere Anbieter auf Plattformen wie Shopify oder Etsy. Gleichzeitig droht der Verlust der direkten Kundenschnittstelle.

Besonders skeptisch zeigt sich Marktführer Amazon. Der Konzern blockiert KI-Crawler und geht juristisch gegen KI-gestützte Einkaufsfunktionen vor. Hintergrund ist das lukrative Werbegeschäft: Wenn Produktsuchen künftig bei KI-Systemen beginnen, verliert Amazon wertvolle Werbeerlöse.
Sichtbarkeit wird zur neuen Währung
Für Marken rückt ein neues Optimierungsfeld in den Mittelpunkt: Generative Engine Optimization (GEO) – die Weiterentwicklung klassischer SEO. Unternehmen müssen ihre Inhalte so aufbereiten, dass KI-Modelle sie als vertrauenswürdige Quelle nutzen. Neben der eigenen Website spielen externe Plattformen eine wachsende Rolle, etwa Bewertungsportale oder Foren wie Reddit, die von KI-Systemen häufig zitiert werden.
Revolution oder doch nur Hype?
Nicht alle Experten erwarten einen radikalen Umbruch. Kritiker verweisen auf frühere E-Commerce-Hypes wie Voice Commerce, die hinter den Erwartungen zurückblieben. Für komplexe oder hochpreisige Produkte dürfte das Vertrauen in autonome KI-Käufe lange begrenzt bleiben. Wahrscheinlicher ist ein hybrides Modell: KI als Einkaufsassistent, nicht als Einkaufsersatz.
Fazit
Agentic Commerce verändert den Onlinehandel bereits heute – vor allem bei der Produktsuche und Vorbereitung von Käufen. Eine vollständige Automatisierung des Einkaufens bleibt jedoch vorerst die Ausnahme. Ob sich der Trend zur Revolution oder zum Nischenphänomen entwickelt, hängt weniger von der Technik ab als von Vertrauen, Geschäftsmodellen und Regulierung.


