Ein Schritt, der überrascht
Es ist ein Satz, der aufhorchen lässt: „Abschiebungen nach Afghanistan müssen regelmäßig stattfinden können.“ Mit diesen Worten kündigt Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) eine Kehrtwende in der deutschen Migrationspolitik an. Straftäter und Gefährder sollen nicht länger in Deutschland bleiben – selbst wenn das Ziel Afghanistan heißt, regiert von den Taliban.
Noch in diesem Oktober sollen Beamte seines Ministeriums nach Kabul reisen. Dort, in einer Stadt, die für viele westliche Staaten zum Symbol des Scheiterns wurde, will die Bundesregierung nun verhandeln. Nicht über Entwicklungshilfe, nicht über Sicherheit – sondern über Abschiebungen.

Das Ende der Tabus
Bislang galt es als politisches No-Go, den Taliban in irgendeiner Form Legitimität zuzugestehen. Berlin, Brüssel, Washington – offiziell hält man Distanz, kritisiert Menschenrechtsverletzungen, prangert die Unterdrückung von Frauen an. Doch die Realität zwingt zu neuen Wegen: Rund 30.000 Afghanen leben derzeit in Deutschland ohne dauerhaften Schutzstatus, etliche von ihnen sind straffällig geworden oder stehen unter Terrorverdacht.
Ein Abkommen mit Kabul könnte den politischen Stillstand beenden. Abschiebungen in Chartermaschinen, von Gerichten oft blockiert, sollen durch reguläre Linienflüge ersetzt werden. So zumindest Dobrindts Plan.

Politische Sprengkraft
Der Vorstoß birgt Risiken. Wer mit den Taliban verhandelt, anerkennt sie indirekt als Regierung – genau das, was Deutschland bislang vermeiden wollte. Außenpolitisch ist die Gefahr groß, dass der Schritt als stillschweigende Normalisierung verstanden wird.
Zugleich stellen sich rechtliche Fragen. Deutsche Verwaltungsgerichte haben in den vergangenen Jahren wiederholt Rückführungen nach Afghanistan gestoppt, mit Hinweis auf die unsichere Lage im Land. Selbst ein Abkommen entbindet die Behörden nicht von der Pflicht, jeden Einzelfall zu prüfen.
Und dann sind da noch die Menschenrechtler. Sie warnen: Wer Straftäter nach Kabul schickt, setzt sie einem Regime aus, das Folter, Misshandlungen und Willkür nicht ausschließt. Für viele Beobachter steht deshalb fest: Ein Deal mit den Taliban mag innenpolitisch attraktiv klingen – rechtlich und moralisch ist er höchst umstritten.
Innenpolitisches Kalkül
Für Dobrindt steht dennoch fest, dass Handlungsfähigkeit zählt. In einer Debatte, die seit Jahren von Unsicherheit geprägt ist, will er Stärke zeigen. Seine Botschaft: Deutschland schützt seine Bürger – koste es, was es wolle.
Damit sendet er auch ein Signal an die Opposition. Die Union drängt seit Langem auf härtere Maßnahmen gegen Gefährder, während FDP und SPD im Koalitionsgefüge bislang auf Abwarten setzten. Nun dreht der Innenminister das Blatt: Statt Zögern setzt er auf Offensive.
Was die Taliban davon haben könnten
Auch in Kabul dürfte man aufmerksam zuhören. Für die Taliban wäre ein Abkommen mit Deutschland mehr als nur ein Verwaltungsakt. Es wäre ein Beweis dafür, dass der Westen ihre Macht faktisch anerkennt – auch wenn dies niemand offiziell zugibt.
Zudem könnten materielle Zugeständnisse eine Rolle spielen. Schon jetzt ist klar, dass Abschiebungen logistisch und finanziell Unterstützung erfordern würden. Ob es dabei um Geld, Ausrüstung oder einfach nur um technische Kooperation geht – offizielle Stellen schweigen.
Ein riskantes Spiel
Bleibt die entscheidende Frage: Wird es wirklich so weit kommen? Werden Straftäter künftig im regulären Linienflug nach Kabul sitzen, eskortiert von Bundespolizisten?
Dobrindt setzt auf Härte, auf Pragmatismus, auf das Ende der Tabus. Doch ob der Poker mit den Taliban gelingt, entscheidet sich nicht nur in den Sitzungszimmern von Kabul. Es entscheidet sich auch in deutschen Gerichtssälen – und in einer Öffentlichkeit, die genau hinschauen wird, welchen Preis dieser Deal am Ende hat.
Eines aber ist sicher: Mit seiner Ankündigung hat der Innenminister eine der heikelsten Debatten der deutschen Politik neu entfacht.
