77 Prozent mehr Sprachstörungen seit 2008
Es ist eine stille Entwicklung, die kaum jemand auf dem Schirm hat – dabei wachsen die Zahlen rasant. Nach aktuellen Daten der Krankenkasse KKH hat sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Sprach- und Sprechstörungen seit 2008 um 77 Prozent erhöht.
Jedes sechste Kind in der Grundschule hat mittlerweile Schwierigkeiten mit Grammatik, Satzbau oder Wortschatz. Besonders betroffen sind Jungen: Fast jeder zehnte kämpft mit massiven Defiziten.
Das Problem beginnt früh
Sprache wird in den ersten Lebensjahren gelernt. Genau dort setzen die Schwierigkeiten heute an. Viele Kinder starten mit einem begrenzten Wortschatz in die Schule. Was früher als Einzelfall galt, wird zur Regel.
Experten sprechen von einer schleichenden Verschlechterung, die sich durchzieht bis ins Jugendalter – mit weitreichenden Konsequenzen für Bildung, Beruf und soziale Teilhabe.

Eltern, die nicht mehr reden
Die Ursachen sind vielschichtig – aber eine zentrale Rolle spielt das Elternhaus. „Sprache entsteht im Dialog“, sagt Vijitha Sanjivkumar von der KKH. Doch dieser Dialog findet immer seltener statt.
Eltern, die selbst stundenlang am Smartphone hängen, lesen weniger vor, führen seltener Gespräche mit ihren Kindern. Stattdessen: YouTube, Netflix, TikTok.
Bildschirm statt Buch
Die digitalen Geräte sind allgegenwärtig. Und sie sind gnadenlos effizient darin, Aufmerksamkeit zu binden. Was sie nicht leisten: den Sprachschatz erweitern.
Kinder, die früh und häufig vor Bildschirmen sitzen, hören weniger komplexe Sätze, lernen weniger neue Begriffe, üben seltener freies Sprechen. Der passive Konsum ersetzt das aktive Gespräch – und genau hier entsteht die Lücke.
Sprachdefizite sind Bildungslücken
Wer beim Sprechen nicht mitkommt, hat es auch beim Lesen, Schreiben und Lernen schwerer. Die Sprachdefizite schlagen unmittelbar auf die schulischen Leistungen durch.
Im Unterricht wird das Problem sichtbar – zu einem Zeitpunkt, an dem Förderung oft schon deutlich schwieriger ist.
Therapie statt Prävention
Logopäden und Sprachtherapeuten erleben seit Jahren einen Boom. Doch die Therapien sind teuer und langwierig. Viele Kinder bekommen überhaupt erst Hilfe, wenn die Defizite bereits gravierend sind.

Prävention wäre der Schlüssel, doch an früher Förderung hapert es. Viele Eltern unterschätzen die Bedeutung aktiver Spracherfahrung in den ersten Lebensjahren.
Auch in wohlhabenden Familien ein Problem
Auffällig: Es trifft nicht nur bildungsferne Schichten. Auch Kinder aus Akademikerhaushalten zeigen vermehrt Sprachdefizite. Der Grund ist ähnlich: fehlende Zeit, fehlende Gespräche, zu viel Bildschirm. Einkommen und Bildung schützen also nur bedingt.
Das Bildungssystem am Limit
Für Lehrer bedeutet die Entwicklung zusätzliche Belastung. Viele übernehmen längst Aufgaben, die eigentlich in die Frühförderung gehören würden.
Sprachförderprogramme helfen, reichen aber bei weitem nicht aus, um die wachsende Zahl betroffener Kinder aufzufangen. Schon heute klagen Schulen über wachsende Unterschiede im Leistungsniveau – Sprache ist dabei einer der entscheidenden Faktoren.
Ein gesellschaftliches Risiko
Sprachkompetenz ist mehr als nur das Aneinanderreihen von Wörtern. Sie ist die Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe, beruflichen Erfolg, kritisches Denken und sozialen Austausch.
Eine Generation mit massiven Sprachdefiziten wird langfristig auch wirtschaftlich Spuren hinterlassen – in Form von schlechteren Bildungsabschlüssen, geringerer Produktivität und wachsender sozialer Ungleichheit.
Die Politik schweigt
Trotz der alarmierenden Zahlen wird das Thema politisch kaum diskutiert. Frühkindliche Bildung ist zwar ein gern genutztes Schlagwort, doch konkrete Programme zur Stärkung der Sprachentwicklung bleiben Mangelware.
Viele Bundesländer investieren zwar in Sprachförderung in Kitas und Schulen – flächendeckend und ausreichend ist das aber nicht.
Der stille Kollaps einer Schlüsselkompetenz
Während andere Bildungsdebatten die Schlagzeilen bestimmen, wächst hier ein Problem heran, das langfristig mindestens genauso gravierend sein dürfte wie die Mathe- und Leseschwächen, über die regelmäßig diskutiert wird.
Und anders als bei Noten oder Prüfungen fällt das Sprachdefizit nicht sofort auf – es zeigt sich erst schleichend, oft erst dann, wenn es kaum noch aufzuholen ist.
Das könnte Sie auch interessieren:
