Deutsche Automobilkonzerne standen lange synonym für technische Spitzenleistungen. Doch ausgerechnet bei einem der wichtigsten Zukunftsfelder droht dieser Anspruch zu verpuffen: Beim autonomen Fahren bröselt der Vorsprung, auf den sich Mercedes, VW und BMW jahrelang verlassen haben. Eine neue Untersuchung des Centers of Automotive Management (CAM) liefert Zahlen, die die Branche aufschrecken müssten – und die Märkte reagieren bereits.
Innovationskraft – ein Vorsprung mit Ablaufdatum
Mercedes-Benz genießt im Level-3-Segment noch den Status des Vorreiters. Kein anderer Hersteller bietet derzeit eine vergleichbare, offiziell zugelassene Funktion: Der Staupilot der S-Klasse übernimmt bis zu 95 km/h das Lenken – ein technologischer Meilenstein, aber ein Nischenprodukt. BMW wird mit der Neuen Klasse ab 2026 nachziehen, doch das Zeitfenster schließt sich schneller, als den Konzernen lieb sein kann.
Denn während deutsche Ingenieure stolz ihre Level-3-Systeme präsentieren, ist in China längst das Massengeschäft explodiert: Assistenzsysteme der Stufen 2 und 2+ sind dort Standard – und skalieren in einem Tempo, das Europa schlicht überrollt. Hersteller wie BYD, Nio oder Xpeng dominieren mittlerweile 70 Prozent der weltweiten Innovationsstärke in diesem Segment. Deutschland hält gerade einmal 14 Prozent.
Stefan Bratzel, der Autor der Studie, bringt es auf den Punkt: „Der Vorsprung ist fragil.“ Fragiler, als die deutschen Hersteller zugeben wollen.
Der deutsche Irrtum: Luxus statt Skalierung
Der deutsche Vorteil beim hochautomatisierten Fahren klingt beeindruckend – verliert aber an Bedeutung, wenn man sich die Marktvolumina ansieht. Level 3 ist teuer, technisch komplex und weit von einem Massenprodukt entfernt. Level-2-Systeme dagegen entscheiden über Marktanteile, Datenmengen und die Plattformstrategien der Zukunft.
In China wird das deutlich: Fahrassistenz ist dort nicht optional, sondern ein integraler Bestandteil der Kaufentscheidung. Die Upgrade-Geschwindigkeit ist hoch, die Datenbasis riesig, die Konsumenten erwarten permanente Verbesserung. In Deutschland dagegen gilt Level 2 immer noch als Zwischenlösung, die man irgendwann hinter sich lassen möchte.
Doch wer das größte Nutzerökosystem kontrolliert, gewinnt den Wettbewerb am Ende nicht, weil er technologisch brilliert – sondern weil ihm die Daten gehören, die autonome Systeme erst leistungsfähig machen.
Volkswagen im Sinkflug
Ausgerechnet Volkswagen, jahrzehntelang das Symbol deutscher Skalierungsfähigkeit, gerät besonders ins Hintertreffen. Zwischen 2020 und 2024 lag der Konzern noch an der Spitze der weltweiten Serieninnovationen. Doch in den letzten beiden Jahren fiel VW auf Rang sechs zurück. Die ersten fünf Plätze gehen an Hersteller aus Asien.
Bitter für eine Marke, die sich global neu aufstellen müsste – aber in ihren Software- und Autonomieprojekten seit Jahren mit Verzögerungen kämpft.
Währenddessen wächst die Lücke: Chinas Hersteller erhielten 2024 mehr als zwei Drittel aller Innovationspunkte im CAM-Ranking. Deutschland kommt zusammen mit allen Herstellern nur auf ein Fünftel davon.
Die Folgen werden nun sichtbar: Auf XETRA verliert Mercedes leicht, VW noch etwas stärker. Das Sentiment hat sich gedreht – Anleger honorieren Zukunftsfähigkeit, nicht nostalgische Ingenieursromantik.
Cisco warnt vor einer strategischen Illusion
Levar Ussery von Cisco formuliert es ungewohnt deutlich für einen IT-Manager: Das vernetzte Auto müsse ein deutscher Exporterfolg bleiben – „sonst verlieren wir den Schlüssel zur Innovationskraft der Industrie“.
Damit spricht er aus, was viele in Stuttgart und Wolfsburg hinter vorgehaltener Hand zugeben: Ohne digitale Netzwerke, KI-Infrastruktur und eine schnellere Umsetzung droht Deutschland erneut in eine Rolle zu rutschen, die es seit Jahrzehnten vermeiden wollte – die des Zulieferers für andere Technologien.
Die Bundespolitik? Spielt in dieser Debatte bislang kaum eine Rolle. Und genau das könnte sich als Fehler erweisen, denn autonome Systeme werden nicht nur im Auto entwickelt, sondern auch in der Regulierung, in der Datenpolitik, in der Standardisierung.

Ein Markt, der gerade seine Regeln schreibt
Die CAM-Studie zeigt, dass mehr als 750 Innovationen ausgewertet wurden. Die Hälfte ist bereits in Serie – ein Zeichen dafür, wie schnell sich der Markt bewegt. Autonomes Fahren ist nicht mehr das ferne Zukunftsfeld, auf das man in Ruhe warten kann. Die großen Produktionsentscheidungen werden heute getroffen.
Die deutschen Hersteller bleiben zwar sichtbar. Doch sie sind nicht mehr der Taktgeber. Und in einem Markt, der künftig über Mobilität, Infrastruktur und Datenströme entscheidet, ist Zweiter werden langfristig keine Option.
Die Zahlen der Studie sind nicht nur ein Weckruf – sie sind ein Spiegel. Wer in der nächsten Mobilitätsära relevant sein will, braucht nicht mehr nur Ingenieurskunst, sondern Geschwindigkeit, Plattformen und ein Verständnis für digitale Ökosysteme. China liefert all das in einer Konsequenz, die deutsche Hersteller seit Jahren unterschätzen.
Der Vorsprung der Vergangenheit ist kein Schutzwall. Er ist ein Ablaufdatum. Und es läuft.


