Der Traum von der totalen Kontrolle
Ob im Labor, in der Politik oder im Alltag – die westliche Kultur ist geprägt vom Glauben an Machbarkeit. Gesundheit wird optimiert, Gefühle werden getrackt, Produktivität wird in Apps gegossen. Selbst das seelische Wohlbefinden ist zur Managementaufgabe geworden.
Der Markt liefert die Werkzeuge: Biohacking, Achtsamkeits-Apps, Coaching-Programme. Alles verspricht Erleichterung, vieles funktioniert, doch das Muster bleibt gleich: Wir wollen das Unberechenbare beherrschen.
Die Soziologin Eva Illouz hat dieses Phänomen treffend beschrieben: eine „Kultur der permanenten Selbstkur“. Wir behandeln das Leben wie ein Projekt, das optimiert werden kann – und verlieren dabei die Erfahrung, dass Sinn oft gerade dort entsteht, wo wir nicht eingreifen können.
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Die Wirtschaft des Wellbeings
Hinter dieser Entwicklung steckt längst auch ein Milliardenmarkt. Allein die globale Wellness-Industrie hatte 2024 ein Volumen von über 5 Billionen US-Dollar – größer als die Pharma- oder Versicherungsbranche. Was ursprünglich als Unterstützung gedacht war, ist zum Konsummodell geworden: Wer unzufrieden ist, soll kaufen.
Doch das eigentliche Paradox liegt tiefer: Methoden, die uns zur Ruhe bringen sollen, füttern zugleich den Gedanken, dass ein erfülltes Leben eine Frage der richtigen Tools sei. Damit wächst das Gefühl des Mangels – und der Markt hat die passende nächste Lösung parat.

Das Staunen als Gegenentwurf
Die stärksten Erfahrungen jedoch lassen sich nicht bestellen. Sie überfallen uns: ein flüchtiger Blick in den Sternenhimmel, der erste Atemzug eines Neugeborenen, das letzte Wort eines geliebten Menschen. Diese Augenblicke entziehen sich der Kontrolle – und genau das macht sie so kostbar.
Der Philosoph Hartmut Rosa spricht von „Resonanz“: Momente, in denen die Welt uns berührt, ohne dass wir sie erzwingen. Das ist mehr als Romantik – es ist die Erinnerung daran, dass Sinnhaftigkeit nicht kalkuliert werden kann.
Warum wir Ehrfurcht neu lernen müssen
Ehrfurcht heißt, die Grenzen menschlicher Planungskraft anzuerkennen. Sie bedeutet nicht Stillstand, sondern den Mut, das Unverfügbare auszuhalten. In einer Gesellschaft, die Geschwindigkeit, Wachstum und Optimierung zur Norm erhoben hat, ist sie vielleicht die radikalste Haltung überhaupt.
Denn Ehrfurcht schützt vor Zynismus. Sie hält offen, dass nicht alles in Zahlen, Verträge oder Algorithmen zu fassen ist. Und sie erinnert daran, dass die entscheidenden Dinge – Liebe, Verlust, Schönheit, Tod – keiner Planbarkeit gehorchen.
Was die Welt im Innersten zusammenhält, bleibt – trotz aller Fortschritte – ein Geheimnis. Wir können es weder entschlüsseln noch kaufen. Aber wir können lernen, es zu erfahren. Staunend, ehrfürchtig, jenseits des Machbaren. Und vielleicht liegt genau darin die eigentliche Freiheit unserer Zeit.
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