Doppelte Strafen, doppelte Aufregung
Berlin, Donnerstagabend, kurz vor Mitternacht: Der Bundestag beschließt mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD die massivste Reform seiner Geschäftsordnung seit 1980. Das Ordnungsgeld für Fehlverhalten steigt von 1.000 auf 2.000 Euro, im Wiederholungsfall sogar auf 4.000 Euro. Damit will die große Koalition aus Union und SPD für „mehr Disziplin und Anstand“ im Plenarsaal sorgen – so die offizielle Lesart.
Doch während Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) die Reform als „Zeichen der Erneuerung“ lobt, spricht die AfD von einem „Frontalangriff gegen die Opposition“.
Wer entscheidet, was Fehlverhalten ist?
Über die Sanktionen entscheidet künftig die Bundestagspräsidentin oder ein Mitglied des Präsidiums – also Vertreter von CDU, SPD, Grünen, Linken oder CSU. Schon bisher war das Gremium für Ordnungsmaßnahmen zuständig, doch der Handlungsspielraum wird nun deutlich größer.
Was genau als „schwerwiegendes Fehlverhalten“ gilt, bleibt dabei vage. Zwischenrufe, Beleidigungen, Störungen des Sitzungsverlaufs – alles ist im Einzelfall auslegbar. Kritiker warnen vor politisch motivierter Willkür, insbesondere, weil die AfD in den vergangenen Monaten besonders häufig mit Ordnungsrufen belegt wurde.
AfD-Fraktionsgeschäftsführer Stephan Brandner spricht von einer „gezielten Ausschaltung unbequemer Stimmen“. Er sieht den Schritt als Versuch, die Mehrheiten im Bundestag zu sichern, „indem man Oppositionelle aus dem Saal entfernt“.

Ordnung oder Maulkorb?
Neu ist auch: Drei Ordnungsrufe in drei Sitzungswochen führen automatisch zu einer Geldstrafe, drei innerhalb einer Sitzung sogar zum sofortigen Verweis aus dem Plenarsaal. Das ist eine drastische Verschärfung – und ein Novum in der Geschichte des Parlaments.
Klöckner kontert die Kritik mit einem Lächeln: „Es geht nicht um politische Richtungen, sondern um das Wie unserer Arbeit.“ Ziel sei es, Debatten „lebendiger und respektvoller“ zu machen. Gleichzeitig öffnet die Reform neue Freiheiten: Künftig dürfen auch in Aktuellen Stunden Zwischenfragen gestellt werden – ein Detail, das den Schlagabtausch im Bundestag tatsächlich dynamischer machen könnte.
Auch Abwesenheit wird teurer
Neben den Ordnungsstrafen verschärft der Bundestag auch seine Sanktionen bei Fehlzeiten. Wer eine namentliche Abstimmung verpasst, muss künftig 200 statt 100 Euro von seiner Kostenpauschale abgeben. Ein unentschuldigter Fehltag kostet künftig 300 Euro.
Offiziell will man damit „die Verantwortung gegenüber dem Wähler stärken“. Inoffiziell gilt es als Signal an Abgeordnete, die wiederholt durch Abwesenheit glänzen.
AfD erneut ohne Vizepräsidenten
Während der Sitzung scheiterte die AfD erneut mit dem Versuch, den ihr zustehenden Posten des Bundestagsvizepräsidenten zu besetzen. Der Kandidat Malte Kaufmann erhielt nur 153 Ja-Stimmen – 414 Abgeordnete votierten dagegen. Damit bleibt der zweitstärksten Fraktion auch nach fast zwei Legislaturperioden der Zugang zur Bundestagsleitung verwehrt.
Für die AfD ist das mehr als eine symbolische Niederlage. Ohne Vizeposten bleibt der Partei der institutionelle Zugang zur Tagesordnungsgestaltung und zu internen Gremien versperrt – ein empfindlicher Nachteil, gerade in Zeiten verschärfter Ordnungsregeln.
Ein Balanceakt zwischen Disziplin und Demokratie
Die Frage bleibt: Wie viel Ordnung verträgt das Parlament – und wie viel Rebellion braucht es? Der Ton im Bundestag ist seit Jahren rauer geworden, die Grenzen zwischen Debatte und Provokation oft fließend. Doch ob höhere Strafen das Klima wirklich verbessern, ist fraglich.
Was als „größte Reform seit 1980“ verkauft wird, könnte auch zum Symbol einer politischen Ermüdung werden – eines Parlaments, das sich zunehmend selbst reguliert, anstatt seine Konflikte offen auszutragen.
Julia Klöckner nennt die Reform einen „kulturellen Fortschritt“. Die Opposition spricht von einem Dämpfer für die Demokratie. Vielleicht haben beide recht – und genau das ist das Problem.
