Die unsichtbare Messgröße
Er kommt ohne Warnleuchte aus, ohne Alarmton. Und doch ist er oft der Erste, der aufhorcht, wenn im Körper etwas nicht stimmt. Der Ruhepuls – der Herzschlag pro Minute im Zustand völliger Entspannung – ist ein erstaunlich zuverlässiger Spiegel unseres körperlichen Zustands.
Und nicht nur das: Er verrät auch, wie gut wir geschlafen haben, ob uns etwas belastet, ob ein Infekt anrollt – oder ob das Training langsam Früchte trägt.
„Wer seinen Ruhepuls regelmäßig beobachtet, versteht seinen Körper besser“, sagt Dr. Adrian Kunz, Sportmediziner und Diagnostiker für Spitzensportler.
Doch das Potenzial dieser kleinen Zahl ist keineswegs nur etwas für Leistungssportler. „Gerade Manager, Unternehmer, Menschen unter Dauerlast können hier einen wichtigen Marker erkennen – und ihn gezielt nutzen.“
Morgens liegt die Wahrheit auf dem Bett
Die beste Zeit zur Messung: Direkt nach dem Aufwachen. Im Liegen, bevor man aufsteht. Ohne Handy, ohne Koffein, ohne Bewegung. Wer eine Smartwatch trägt, kann auch auf die nächtlichen Werte zurückgreifen – vorausgesetzt, das Gerät misst verlässlich. „Was nicht zählt, ist der Wert, der auf der Uhr steht, wenn man ihn mittags nach dem dritten Kaffee abliest“, so Kunz.

Was viele nicht wissen: Der Ruhepuls ist extrem empfindlich. Schon zwei bis drei Schläge mehr können ein Warnsignal sein – etwa für beginnenden Stress, Übertraining oder einen Infekt. Auch Alkohol wirkt sich direkt aus. Und zwar deutlicher, als viele vermuten.
Ein Glas Rotwein – fünf Schläge mehr
„Alkohol ist ein massiver Einflussfaktor“, sagt Kunz. „Ein einziges Glas Wein kann den Ruhepuls über Nacht um bis zu sechs Schläge erhöhen.“ Der Grund: Der Körper wird in einen aktiveren Zustand versetzt, auch wenn wir schlafen. Die Folge ist ein weniger erholsamer Schlaf – selbst wenn wir subjektiv meinen, gut zu schlafen.
Gleiches gilt für spätes Essen.
„Wer mit vollem Magen ins Bett geht, verhindert, dass der Körper zur Ruhe kommt“, so Kunz.
Die Verdauung arbeitet, der Organismus bleibt aktiv. Der Puls bleibt hoch. Und am nächsten Morgen fühlt man sich wie gerädert – obwohl man acht Stunden im Bett lag.
Stress schlägt durch – auch nachts
Auch psychischer Druck zeigt sich im Puls. „Ein stressiger Arbeitstag, Konflikte, ein überladener Kalender – all das beeinflusst den Herzschlag“, sagt Kunz. Besonders nachts. Denn wer innerlich nicht abschaltet, schläft zwar – aber nicht tief.
Moderne Wearables zeichnen nicht nur die niedrigste Herzfrequenz auf, sondern auch, wann sie sich einstellt. „Bei gestressten Menschen sinkt der Puls oft erst spät in der Nacht – oder gar nicht.“ Das sei ein klares Signal, dass der Körper nicht ausreichend regeneriert. Wer regelmäßig misst, erkennt Muster – und kann reagieren, bevor es zu spät ist.
Vergleiche führen in die Irre
Ein weitverbreiteter Irrtum: Wer einen niedrigeren Ruhepuls hat, ist fitter. Stimmt so nicht. Entscheidend ist nicht der Vergleich mit anderen, sondern der Vergleich mit sich selbst. „Ein Puls von 60 kann für eine Person top sein, für eine andere schon zu hoch“, sagt Kunz.
Leistungssportler wie Triathlet Luca Feldmann kommen zwar auf Werte von 38 – das bedeutet aber nicht, dass ein Manager mit 52 schlechter dasteht. „Wichtig ist die persönliche Veränderung.“

Langfristig beobachten – nicht täglich bewerten
Kunz empfiehlt ein längeres Monitoring: Zwei bis drei Monate, am besten täglich. So entsteht ein individuelles Profil. Wer dann eine dauerhafte Veränderung erkennt – etwa einen dauerhaft höheren Ruhepuls – sollte genauer hinschauen. Hat sich der Schlaf verändert? Die Trainingsbelastung? Die berufliche oder private Situation?
Ist der Puls nur kurzfristig erhöht, kann das normal sein. „Nach einer harten Trainingswoche oder einer schlafarmen Nacht ist das keine Katastrophe“, sagt Kunz. „Aber wer dauerhaft über dem persönlichen Schnitt liegt, sollte etwas ändern – sei es im Training oder im Alltag.“
Mehr Mitochondrien, mehr Leistung, weniger Puls
Was passiert eigentlich im Körper, wenn der Ruhepuls sinkt? Die Antwort liegt tief im Gewebe. „Durch regelmäßiges Ausdauertraining verbessert sich die Durchblutung der Muskulatur“, erklärt Kunz. Es bilden sich neue Kapillaren, mehr Mitochondrien entstehen, das Herz vergrößert sich leicht – alles sorgt dafür, dass weniger Schläge nötig sind, um den Körper zu versorgen.
Konkret: Ein ökonomischer arbeitendes Herz-Kreislauf-System braucht weniger Umdrehungen. Und das ist messbar. „Ein sinkender Ruhepuls zeigt, dass sich das System anpasst.“ Wichtig sei jedoch: Nicht die Zahl ist das Ziel – sondern die Funktion.
Der Puls lügt nicht – wir müssen nur zuhören
Am Ende ist der Ruhepuls wie ein guter Berater: ruhig, unauffällig, verlässlich. Wer ihn regelmäßig misst, erkennt Entwicklungen früher. Manchmal reicht ein Blick auf den Wert – und man weiß: Heute besser locker machen. Oder eben: Jetzt ist der Moment, um anzupacken.
Denn das Herz schlägt nicht nur Blut durch den Körper. Es schlägt Wahrheiten.
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