Die Boeing aus Islamabad landet am späten Nachmittag in Berlin. An Bord: 160 Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusagen der Bundesregierung. Es ist kein Einzelfall, sondern Teil einer Serie von Charterflügen, die ein politisch wie administrativ ungelöstes Erbe sichtbar machen. Die Bundesregierung vollzieht, was rechtlich geboten ist – und versucht zugleich, das Kapitel Afghanistan politisch zu schließen.
Der Widerspruch ist offenkundig. Einerseits werden Menschen eingeflogen, andererseits betont die Koalition, dass es keine neuen Aufnahmeprogramme geben soll. Der aktuelle Flug zeigt, wie schwer sich beides trennen lässt.
Aufnahmezusagen wirken länger als die politische Mehrheit
Die 160 Ankommenden hatten ihre Zusagen teils bereits kurz nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 erhalten. Die damalige Bundesregierung versprach Ortskräften deutscher Institutionen und besonders gefährdeten Afghanen Schutz in Deutschland. Diese Zusagen entfalten bis heute rechtliche Wirkung.

Von den nun Eingereisten stammen 154 Personen aus dem Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan. Hinzu kommt eine frühere Ortskraft mit fünf Familienangehörigen. Nach der Ankunft sollen die Menschen auf die Bundesländer verteilt werden.
Juristisch ist der Vorgang weitgehend klar. Wo rechtsverbindliche Zusagen bestehen, ist der Staat zur Aufnahme verpflichtet. Politisch ist er es längst nicht mehr. Genau daraus speist sich der Konflikt.
Pakistan setzt Deutschland unter Zeitdruck
Die praktische Abwicklung der Programme findet seit Monaten in Pakistan statt. In Islamabad warten die Betroffenen in Gästehäusern auf Sicherheitsüberprüfungen und Visa. Pakistan hatte der Bundesregierung eine Frist bis zum Jahresende gesetzt, um die Verfahren abzuschließen. Danach drohte die Abschiebung der Afghanen zurück nach Afghanistan.
Zwar ist die Grenze aktuell geschlossen, doch der Druck bleibt hoch. Für Deutschland entsteht damit ein faktischer Zwang zur Beschleunigung. Jeder Flug ist auch ein Signal an Islamabad, dass man die Verantwortung nicht weiter hinausschiebt.
Koalitionsvertrag zieht eine politische Linie
Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD ist die Richtung eindeutig formuliert. Freiwillige Bundesaufnahmeprogramme sollen „soweit wie möglich beendet“ werden, neue Programme sind ausgeschlossen. Afghanistan wird dabei ausdrücklich genannt.
Diese Linie steht jedoch in Spannung zur Realität. Zahlreiche Betroffene haben erfolgreich auf Erteilung eines Visums geklagt. Gerichte bestätigten, dass Zusagen bindend sind, auch wenn sich die politische Mehrheitslage geändert hat. In der Folge wurden erneut Charterflüge organisiert, etwa Anfang Dezember nach Erfurt.
Der aktuelle Flug nach Berlin reiht sich in diese Serie ein. Weitere Flüge sind bereits angekündigt.
Die Zahlen zeigen das Ausmaß des Problems
Nach Angaben des Bundesinnenministeriums warten derzeit noch 76 Menschen aus dem Ortskräfteverfahren sowie 465 Afghanen aus dem Bundesaufnahmeprogramm auf ein Visum. Insgesamt geht es also um mehrere Hundert Personen, deren Status geklärt werden muss.

Bundesinnenminister Alexander Dobrindt beziffert die Gesamtzahl der in Pakistan wartenden Afghanen bei seinem Amtsantritt auf rund 2000. Sie hatten Zusagen aus unterschiedlichen Programmen früherer Bundesregierungen erhalten.
Für Dobrindt ist entscheidend, zwischen rechtlich bindenden und unverbindlichen Zusagen zu unterscheiden. „Der überwiegende Teil hat nach unserer Einschätzung rechtsverbindliche Aufnahmezusagen“, sagte er dem Stern und RTL. Diese Zusagen wolle man erfüllen.
Nicht alle sollen nach Deutschland kommen
Gleichzeitig zieht der Innenminister eine klare Grenze. Rund 600 Personen hätten nach Einschätzung seines Hauses keine rechtsverbindliche Zusage. Ihnen sei dies auch mitgeteilt worden. Für diese Menschen endet die Perspektive auf eine Aufnahme in Deutschland.
Damit versucht Dobrindt, das Problem einzugrenzen. Er will das Erbe früherer Entscheidungen abarbeiten, ohne neue politische Verpflichtungen zu schaffen. „Ein erheblicher Teil befindet sich inzwischen davon in Deutschland“, sagte er. „Ein anderer Teil ist auf dem Weg, wenn sie die Verfahren positiv durchlaufen haben.“
Der Ton gegenüber der Vorgängerregierung ist scharf. Dobrindt zeigte sich „maximal unzufrieden“, dass Aufnahmezusagen gemacht worden seien, ohne die Folgen konsequent zu Ende zu denken. Die SPD-geführte Bundesregierung habe ein Problem geschaffen, es aber nicht gelöst.
Sicherheitsüberprüfungen als politischer Flaschenhals
Ein zentraler Punkt bleibt die Sicherheitsprüfung. Die Verfahren gelten als aufwendig und zeitintensiv. In den vergangenen Monaten seien sie jedoch „in weiten Teilen abgearbeitet“ worden, heißt es aus dem Innenministerium.
Politisch erfüllen die Prüfungen eine doppelte Funktion. Sie dienen nicht nur der Sicherheit, sondern auch als Instrument zur Begrenzung und Verzögerung. Jeder abgeschlossene Fall reduziert die Restzahl – und damit den politischen Druck.
Menschlichkeit gegen Steuerbarkeit
Die Debatte wird zunehmend moralisch aufgeladen. Vertreter der Grünen sprechen von einem „Gebot der Menschlichkeit“ und kritisieren den restriktiven Kurs. Andere warnen vor einem Kontrollverlust und verweisen auf die Notwendigkeit, Migrationspolitik wieder steuerbar zu machen.
Der aktuelle Charterflug illustriert diesen Zielkonflikt. Für die Betroffenen ist er Rettung und Neubeginn. Für die Politik ist er eine Pflichtübung, die man eigentlich hinter sich lassen wollte.
Das Kapitel ist noch nicht geschlossen
Die Bundesregierung versucht, einen Schlusspunkt zu setzen. Doch jeder weitere Flug zeigt, dass dies nur begrenzt gelingt. Solange rechtsverbindliche Zusagen bestehen, bleibt der Handlungsspielraum eng.
Der politische Wille, keine neuen Programme aufzulegen, kollidiert mit Entscheidungen der Vergangenheit. Die Chartermaschine aus Islamabad ist deshalb mehr als ein Transportmittel. Sie ist ein Symbol dafür, wie lange politische Entscheidungen nachwirken – selbst dann, wenn sich Mehrheiten, Koalitionen und Prioritäten längst geändert haben.
Ob der „überwiegende Teil“ der zugesagten Afghanen tatsächlich noch nach Deutschland kommt, wird sich in den kommenden Wochen entscheiden. Sicher ist nur: Mit jedem Flug wird deutlicher, dass sich das Thema nicht leise erledigen lässt.



