Ein Rechtsstaat im Stau der Verfahren
Deutschlands Strafjustiz steht vor einem strukturellen Problem: Die Zahl neuer Fälle ist in den vergangenen Jahren schneller gewachsen, als Personal und Mittel aufgestockt wurden. 2024 gingen bei den Staatsanwaltschaften bundesweit rund 5,5 Millionen neue Ermittlungsverfahren ein – gut eine halbe Million mehr als noch im Jahr 2020.
Besonders alarmierend: Zum Jahresende lagen 950.000 Fälle unbearbeitet in den Schubladen der Ermittler. Das sind knapp 240.000 mehr als vier Jahre zuvor. Der Rückstau führt dazu, dass Verfahren verschleppt oder gleich ganz eingestellt werden. Während 2014 noch jeder zehnte Fall vor Gericht landete, war es 2024 nur noch jeder sechzehnte.
Erosion der Strafverfolgung
Die Folgen sind gravierend: Opfer von Straftaten fühlen sich im Stich gelassen, Täter gehen ohne Konsequenzen davon. Die „stille Erosion“ des Rechtsstaats, von Richtern seit Jahren beklagt, ist inzwischen messbare Realität. Ermittler und Richter berichten von übervollen Geschäftsstellen, Dauerstress und kaum noch Zeit für gründliche Ermittlungsarbeit.
Juristen warnen: Wenn Anklagen zunehmend auf der Strecke bleiben, verliert der Rechtsstaat seine abschreckende Wirkung. Das Vertrauen der Bürger in die Funktionsfähigkeit der Justiz steht auf dem Spiel.

Milliardenpaket gefordert
Der Deutsche Richterbund (DRB) schlägt deshalb Alarm. Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn fordert ein milliardenschweres Investitionspaket von Bund und Ländern. Vor allem die Länder stünden in der Pflicht:
„Die chronische Überlastung der Ermittlungsbehörden und Strafgerichte duldet keinen Aufschub mehr.“
Der Bund hat angekündigt, rund 500 Millionen Euro bereitzustellen, um Staatsanwaltschaften und Gerichte zu stärken. Doch das Geld fließt nur, wenn die Länder eine eigene Personaloffensive zusagen. Rebehn fordert eine schnelle Entscheidung noch im Herbst, damit neue Stellen tatsächlich besetzt und die Verfahren beschleunigt werden können.
Strukturelle Schwäche statt Einzelfallproblem
Die Zahlen zeigen, dass es sich nicht mehr um punktuelle Überlastungen handelt, sondern um ein strukturelles Defizit. Schon seit Jahren hinkt die Zahl der Richter und Staatsanwälte dem tatsächlichen Bedarf hinterher. Während die Fallzahlen steigen, bleibt der Personalausbau halbherzig.
Kritiker bemängeln zudem, dass die Politik lieber über spektakuläre Gesetzesverschärfungen debattiert, statt die Basisarbeit der Justiz zu sichern. Neue Straftatbestände bringen wenig, wenn Verfahren gar nicht erst vor Gericht landen.
Ein Rechtsstaat am Scheideweg
Die Justizreform ist längst keine Frage juristischer Fachdebatten mehr, sondern eine Grundsatzfrage demokratischer Stabilität. Mit fast einer Million unbearbeiteter Fälle steht die deutsche Strafjustiz vor einem Scheideweg. Gelingt es nicht, massiv Personal aufzubauen und Strukturen zu modernisieren, droht ein System, das die Bürger nicht mehr schützt, sondern Vertrauen verspielt.
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