Ein nächtlicher Transport – und ein schwer beladener Anspruch
Es ist kurz nach 22 Uhr, als sich auf den Straßen zwischen dem Godorfer Hafen und dem LYB-Werk in Wesseling zwei kolossale Transportzüge in Bewegung setzen. 63 Meter lang, 140 Tonnen schwer, neun Meter hoch: Was da durch die Nacht rollt, ist nicht einfach nur ein Tankbehälter – sondern Symbol für ein ambitioniertes Versprechen.
LyondellBasell will mit seiner MoReTec-Anlage das schaffen, woran die Kreislaufwirtschaft bislang regelmäßig gescheitert ist: nicht recycelbare Kunststoffabfälle in neuen Wertstoff zu verwandeln – und zwar im industriellen Maßstab.
MoReTec – viel mehr als nur ein neues Werk
Hinter dem sperrigen Namen „Molecular Recycling Technology“, kurz MoReTec, steckt ein Prestigeprojekt mit politischen wie ökologischen Dimensionen. Entwickelt wurde das Verfahren von LyondellBasell selbst, einem der größten Kunststoffproduzenten der Welt.
Statt PET-Flaschen oder sortenreinen Verpackungen will man künftig „Mischkunststoffe“ verarbeiten – also genau jene bunten, verunreinigten Abfälle, die bislang allenfalls in der Müllverbrennung landen.
Das Prinzip: Pyrolyse. Durch thermische Spaltung werden die Kunststoffe in ihre molekularen Bestandteile zurückgeführt – das entstehende Pyrolyseöl kann wie Rohöl wieder in der Kunststoffproduktion eingesetzt werden. Ein geschlossener Stoffkreislauf, zumindest theoretisch.
260.000 Liter Hoffnung pro Tank
Die angelieferten Tanks, jeder mit einem Fassungsvermögen von 260.000 Litern, dienen zur Lagerung des Pyrolyseöls.

Die Anlieferung ist spektakulär, aber auch symptomatisch: Die technologische Komplexität, der Energieaufwand und der immense Platzbedarf zeigen, dass hier kein Low-Tech-Ansatz verfolgt wird – sondern ein hochindustrialisierter Recyclingprozess mit entsprechender Kapitalintensität.
40 Millionen Euro kommen aus Brüssel, aus dem Innovationsfonds der EU. LyondellBasell selbst investiert mutmaßlich ein Vielfaches. Spätestens 2026 soll die Anlage betriebsbereit sein und damit in einen Markt eintreten, der nicht nur von Umweltzielen, sondern auch von wachsenden politischen Zielkonflikten geprägt ist.
Recycling zwischen Ideal und Industriepolitik
Die Erwartung ist klar formuliert: Zwei Millionen Tonnen recycelte oder erneuerbare Kunststoffe jährlich will LyondellBasell bis 2030 produzieren.
Die MoReTec-Anlage ist ein Meilenstein auf diesem Weg – doch gleichzeitig auch ein Testfall für die politische Vision einer echten Kreislaufwirtschaft. Denn chemisches Recycling steht seit Jahren in der Kritik: zu teuer, zu energieintensiv, zu wenig klimaneutral.
Gleichzeitig häufen sich – auch in Deutschland – die Stimmen, die vor einem „Recycling-Label“ ohne realen Umweltnutzen warnen. Die Bundesregierung plant, die chemischen Verfahren nur dann als Recycling anzuerkennen, wenn sie nachweislich weniger Emissionen erzeugen als die Müllverbrennung.
Die Realität hinter dem Versprechen
Kritiker warnen zudem, dass Verfahren wie MoReTec nicht die Ursache des Problems bekämpfen – also die übermäßige Produktion und den Konsum von Plastik – sondern lediglich Symptome verwalten.
Die Industrie hält dagegen: Ohne technologische Lösungen werde man weder die Mengen noch die Qualitätsansprüche moderner Wertstoffkreisläufe bewältigen können.
Dr. Daniel Koch, Werksleiter von LYB Wesseling-Knapsack, sieht das Projekt als "entscheidenden Beitrag für die Umwelt, Industrie und Gesellschaft." Der Ort ist bewusst gewählt: Mit Wesseling als Standort und der Nähe zum Chemie-Cluster Rheinland hat LyondellBasell direkten Zugang zu Logistik, Know-how und politischer Bühne.
Ein Leuchtturm – aber mit Schatten
Die Grundsteinlegung im Herbst 2024 war ein hochrangiges politisches Schaulaufen: Hendrik Wüst, Mona Neubaur, Olaf Scholz – die MoReTec-Anlage wurde zur Bühne für industriepolitische Symbolik.
Doch die Realität wird sich nicht in Fototerminen entscheiden. Entscheidend wird sein, ob das Pyrolyseöl tatsächlich in größerem Maßstab wiederverwendet wird – und ob es regulatorisch als „recycelt“ gilt.
Denn das europäische Recht ist in Bewegung: Die Definition von „Recycling“ wird derzeit auf EU-Ebene neu verhandelt. Sollte das chemische Verfahren durchfallen, wären Projekte wie MoReTec wirtschaftlich massiv gefährdet – selbst mit Millionenförderung aus Brüssel.
Rollt hier die Zukunft – oder eine neue Zwischenlösung?
Was da in der Nacht durch Wesseling rollt, ist mehr als nur ein Tank – es ist ein 63 Meter langer Lackmustest für die Zukunft der Kunststoffwirtschaft. MoReTec steht sinnbildlich für den Spagat zwischen technologischem Fortschritt und politischem Erwartungsdruck, zwischen Industrienutzen und Umweltbilanz.
Ob die Rechnung aufgeht, wird sich nicht an der Größe der Tanks, sondern an der Glaubwürdigkeit des Systems entscheiden. Noch bleibt offen, ob chemisches Recycling zum Retter oder nur zum teuren Trostpflaster einer überforderten Wegwerfgesellschaft wird.
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