05. August, 2025

Politik

47 Milliarden Euro – Wie das Bürgergeld zur fiskalischen Großbaustelle wurde

Die Kosten für die Grundsicherung explodieren – und die politische Debatte eskaliert. Zwischen Populismus, Systemfragen und echter Reform steht ein Sozialstaat unter Druck.

47 Milliarden Euro – Wie das Bürgergeld zur fiskalischen Großbaustelle wurde
2024 beliefen sich die Bürgergeld-Ausgaben auf 46,9 Milliarden Euro – ein Anstieg um 4 Milliarden gegenüber dem Vorjahr, trotz wirtschaftlicher Erholung.

Ein Sozialetat gerät ins Wanken

Die Zahl ist eindeutig – und brisant: 46,9 Milliarden Euro hat der Staat 2024 für das Bürgergeld aufgewendet. Das sind rund vier Milliarden mehr als im Vorjahr. Inklusive Kinder und Jugendlicher beziehen derzeit 5,5 Millionen Menschen Leistungen nach dem SGB II, davon knapp vier Millionen gelten als erwerbsfähig.

Die Daten stammen aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der AfD – politisch nicht ganz zufällig, aber inhaltlich hochrelevant.

Denn so deutlich wie jetzt war die Schieflage der Grundsicherung selten zu erkennen. Während die Wirtschaft weiter an Fachkräften mangelt, steigen die Sozialausgaben Jahr für Jahr – und heizen die politische Debatte spürbar auf.

Kritik von der Union, Druck von der AfD

„Das ist ein Weckruf“, sagt CDU-Arbeitsmarktpolitiker Marc Biadacz. Das Bürgergeld setze die falschen Anreize und belaste den Haushalt ohne echten Fortschritt bei der Arbeitsmarktintegration.

Seine Forderung: eine Rückkehr zu stärkerer Eigenverantwortung und Vermittlung. Auch CSU-Chef Markus Söder prescht vor – mit einem Vorschlag, der rechtlich wie sozialpolitisch fragwürdig ist: Geflüchteten aus der Ukraine solle künftig pauschal nur noch das niedrigere Asylbewerbergeld zustehen – unabhängig vom Einreisezeitpunkt.

Die AfD geht weiter und fordert gleich den völligen Ausschluss von Ausländern aus dem Bürgergeldbezug. Dabei ist die Realität differenzierter – und politisch weit weniger populistisch verwertbar.

Rund 47 Prozent der Bürgergeldbezieher sind Ausländer – bei gleichzeitig steigender Beschäftigungsquote unter ukrainischen Geflüchteten auf zuletzt 33,2 Prozent.

Woher der Anstieg kommt – und warum er nicht nur temporär ist

Ein Großteil der Kostensteigerung im Bürgergeld ergibt sich aus zwei Effekten: der Erhöhung der Regelsätze in den Jahren 2023 und 2024 – und dem starken Zustrom Geflüchteter, vor allem aus der Ukraine. Allein auf Ukrainer entfielen 2024 rund 6,3 Milliarden Euro der Gesamtsumme.

Diese Ausgaben treffen auf einen Anpassungsmechanismus, der auf vergangene Inflationswerte reagiert und damit die Haushaltsplanung erheblich erschwert. IAB-Ökonom Enzo Weber spricht von „Überzeichnungen“, die „extreme Ausschläge“ im System erzeugen. Seine Empfehlung: den Mechanismus reformieren, bevor er zur politischen Hypothek wird.

Geflüchtete – Teil des Problems oder Teil der Lösung?

Auch wenn sich populistische Kritik gern auf den Anteil von Ausländern an den Bürgergeld-Ausgaben stürzt – der wirtschaftliche Kontext sieht anders aus. 47,4 Prozent der Leistungen gingen 2024 an Ausländer.

Das ist viel – aber erklärbar. Denn deutsche Arbeitnehmer haben meist Anspruch auf Arbeitslosengeld I und finden schneller neue Stellen. Geflüchtete hingegen starten ohne Sprachkenntnisse, ohne formale Anerkennung ihrer Qualifikationen und oft ohne berufliches Netzwerk.

Gleichzeitig zeigt die Statistik: Die Integration schreitet voran. Die Beschäftigungsquote unter ukrainischen Geflüchteten stieg von 24,8 Prozent (Oktober 2023) auf 33,2 Prozent im Sommer 2025. Eine Verdopplung in zwei Jahren gilt unter Arbeitsmarktforschern als ambitionierter, aber realistischer Pfad.

Ein Drittel der Bürgergeld-Ausgaben entfällt auf Geflüchtete – die AfD fordert Leistungskürzungen, während Ökonomen vor langfristig höheren Folgekosten warnen.

„Man darf das System nicht kaputtsparen, bevor es wirkt“, warnt Enzo Weber. Wer jetzt Menschen aus dem Bürgergeld-System herausnehme, nehme ihnen auch Beratung, Vermittlung und Qualifizierung. Die Folge wären höhere Ausgaben, nicht geringere.

Zwischen Überforderung und Strukturreform

Die Ampelkoalition hat eine Reform des Bürgergeldes in Aussicht gestellt. Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) will im Herbst einen Gesetzentwurf vorlegen. Im Zentrum sollen verschärfte Mitwirkungspflichten, aber auch klarere Förderinstrumente stehen.

Das Problem: Die Reform wurde im Koalitionsvertrag zwar angekündigt, aber bislang nicht geliefert. Inzwischen wird der Handlungsdruck größer – nicht nur wegen der Zahlen, sondern auch wegen der politischen Stimmung.

Denn die Kritik am Bürgergeld ist längst kein Randphänomen mehr. In Zeiten knapper Kassen, steigender Staatsverschuldung und wachsender Unsicherheit über die künftige Finanzierung der Sozialsysteme steht jeder Posten im Bundeshaushalt unter Beobachtung.

Das Bürgergeld ist dabei zur Projektionsfläche geworden – für Systemkritik, für fiskalischen Frust, aber auch für ideologische Debatten.

Drei Milliarden Euro pro 100.000 Menschen

Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kosten 100.000 Bürgergeldbezieher rund drei Milliarden Euro jährlich. Das zeigt, wie stark die fiskalischen Effekte ausfallen, wenn es gelingt, Menschen nachhaltig in Arbeit zu bringen. Genau deshalb sei es falsch, auf Integration zu verzichten, argumentiert Weber – auch wenn kurzfristig die Kosten steigen.

Ein Verzicht auf Qualifizierungsangebote oder Beratung könnte sich langfristig als Bumerang erweisen. Gerade in einem angespannten Arbeitsmarkt, in dem ohnehin Arbeitskräfte fehlen, wäre eine bewusste Nichtvermittlung ein teurer Fehler.

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